Delhi Love Story
erleben , denke ich und gehe zurück in die Wohnung.
Vierunddreißig
Am Morgen weckt mich leise Instrumentalmusik. Die tiefen, starken, vollen Klänge erinnern mich an längst Vergessenes. Die Musik hallt in meinem Kopf wider, füllt den Raum hinter meinen Augenlidern und vertreibt den Schlaf.
Die Luft in meinem Zimmer ist kühl. Ich schlage die Decke zurück. Durch die Vorhänge dringt schwaches graues Tageslicht. Ich öffne die Tür; am anderen Ende des Flurs dringt das Sonnenlicht grellrosa durchs Fenster und blendet mich. Der ganze Flur ist lichtdurchflutet. Es duftet nach Räucherstäbchen und Sandelholz. Schläfrig reibe ich mir die Augen und stoße fast mit Rani zusammen, die aus der Küche kommt.
»Oh, tut mir leid, Ani, ich habe dich nicht gesehen.«
Sie ist frisch geduscht, hat nasse Haare und wirkt heute besonders ätherisch, wie in 3D. Sie trägt einen pfirsichfarbenen Salwar-Kameez mit farblich passender Blüte im Haar. In den Händen hält sie zwei Tabletts. Auf dem einen stapeln sich frische, duftende Blütenblätter, das andere enthält farbige Pasten in Rot, Gelb, Grün und Blau. »Guten Morgen«, sagt sie, »Happy Diwali !«
»Was machst du?«
»Wir machen ein Rangoli .«
»Ani, du bist wach! Happy Diwali , mein Schatz!«
Ma drückt mich. Sieben Uhr früh, und sie ist schon geduscht und angezogen?
»Oh Rani, wie hübsch!«
Sei nimmt das Tablett mit den Blütenblättern und trägt es zur Wohnungstür. Gemeinsam mit Rani streut sie die Blätter auf den Boden vor unserer Wohnungstür.
»Was ist ein Rangoli ?«, frage ich.
»Das ist ein farbiges Muster, das man zu bestimmten Festen anfertigt«, sagt Rani. »Ich habe nicht viel Übung darin, aber –«
»Es wird hübsch«, sagt Ma. »Möchtest du mitmachen, Ann?«
»Nein danke.«
Ich lehne im Türrahmen und sehe zu, wie sie zusammen mit Kreide einen kleinen gelben Kreis malen. Rundherum zeichnen sie die Umrisse graziler rote Blütenblätter. Rani malt sie mit roter Paste aus, Ma schmückt sie mit Rosenblättern.
»Woher weißt du, wie das geht?«, frage ich. Soweit
ich sehen kann, orientieren sie sich nicht an irgendeiner Skizze. Sie scheinen zu improvisieren und den Motiven der jeweils anderen zu folgen.
»Man kann es machen, wie man will«, sagt Rani. Sie fügt Blätter hinzu, an deren Spitzen Ma geschwungene Linien ergänzt.
»Aber es ist so symmetrisch. Als hättet ihr eine Vorlage. «
Sie sehen sich lächelnd an. Sie haben keine Vorlage.
»Soll das die Sonne sein?«, frage ich und zeige auf das gelbe Blütenrund in der Mitte.
»Nein«, antwortet Rani. »Und geh nicht so dicht heran, Ani – du hättest beinahe die Blüte mit deinem Fuß verwischt!«
Ich trete zurück.
»Vorsicht , Beta !«, kreischt Ma. »Das Tablett ist direkt hinter dir!«
Ich entferne mich von den beiden und fühle mich äußerst tollpatschig. »Soll ich euch Tee machen?«
»Das ist eine gute Idee. Aber nimm diesmal nicht so viel Milch, Schatz.«
Ich koche Wasser, hänge die Teebeutel in die Tassen. Wenigstens das kann ich. Es muss schön sein, Kreativität und Grazie zu besitzen. Das Wasser erwärmt sich, erwacht langsam zum Leben, kleine Blasen steigen auf. Ich gieße das kochende Wasser in die Tassen, rühre die Milch ein. Die Mischung färbt sich grau. Ich habe vergessen, den Tee ziehen zu lassen, bevor ich die Milch hinzugefügt habe. Außerdem habe ich wie immer zu viel Milch hineingegeben. Ach, egal. Nicht jeder kann alles.
Ein Lachen dringt von der Wohnungstür bis in die Küche. Außer Ma, denke ich.
Beide fügen mit ausgestreckten Armen Ringelblumenblüten in die Mitte des Musters ein. Ich bringe das Tablett mit dem Tee und bin einen Moment lang erstaunt, wie sehr sich ihre langen, schlanken, grazilen und hellen Arme ähneln. »So«, sagt Ma und blickt auf. Die Sonne steht jetzt höher und scheint ihr direkt in die Augen. Sie bedeckt sie mit der Hand und hinterlässt dabei einen Streifen roter Paste auf ihrer Wange. Ich stelle das Tablett hin. »Ma«, sage ich, »du hast da –«
»Entschuldigung.«
Die Stimme versetzt mir einen Stich, ich ziehe meine Hand zurück. Wie aus dem Nichts steht JD in der Tür. Er trägt einen seidenen Kurta und hat einen roten Tika auf der Stirn. Sanft wischt er den Fleck auf Mas Wange mit dem Daumen weg. »Happy Diwali , Isha«, wünscht er. »Happy Diwali , Rani.«
Als sich die drei umarmen, schlägt mir arktische Kälte entgegen. Ich friere auf der Stelle ein und werde zu einem riesigen, knarzenden Eisberg.
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