Delirium
er. »Aber du musst zugeben, dass die Aussicht der Wahnsinn ist.«
»Ich wünschte, wir könnten hierbleiben«, platze ich hervor und füge hastig hinzu: »Ich meine, nicht wirklich. Nicht für immer, aber ⦠Du weiÃt schon, was ich meine.«
Alex schiebt seinen Arm unter meinen Nacken und ich rücke näher an ihn heran, um meinen Kopf an die Stelle zu legen, wo seine Schulter in die Brust übergeht und mein Kopf perfekt hinpasst. »Ich bin froh, dass ich dir das zeigen konnte«, sagt er.
Eine Weile liegen wir einfach nur schweigend da. Seine Brust hebt und senkt sich und nach einer Weile macht mich die Bewegung schläfrig. Meine GliedmaÃen werden unglaublich schwer. Die Sterne scheinen sich zu Wörtern anzuordnen und ich will sie weiter ansehen, ihre Bedeutung herauslesen, aber meine Lider sind auch schwer: unmöglich, absolut unmöglich, die Augen offen zu halten.
»Alex?«
»Ja?«
»Sag mir noch mal das Gedicht auf.« Meine Stimme klingt nicht wie meine eigene; die Worte klingen wie aus weiter Ferne.
»Welches?«, flüstert Alex.
»Das, das du auswendig kannst.« Schweben; ich schwebe.
»Ich kenne viele auswendig.«
»Dann irgendeins.«
Er holt tief Luft und hebt an: »Ich trage dein Herz bei mir. Ich trage es in meinem Herzen. Ich habe es stets dabei â¦Â«
Er spricht weiter, Worte streifen über mich hinweg, wie Sonne über eine Wasseroberfläche hüpft, in die Tiefen darunter dringt und die Dunkelheit erhellt. Ich halte die Augen geschlossen. Erstaunlicherweise kann ich immer noch die Sterne sehen: ganze Galaxien, die aus dem Nichts erblühen â rosa und purpurrote Sonnen, weite silberne Ozeane, tausend weiÃe Monde.
Es kommt mir vor, als hätte ich nur fünf Minuten geschlafen, als Alex mich sanft wach rüttelt. Der Himmel ist immer noch pechschwarz, der Mond steht hell und hoch am Himmel, aber die Kerzen im Wohnwagen sind heruntergebrannt. Ich muss mindestens eine Stunde weg gewesen sein.
»Zeit zu gehen«, sagt er und streicht mir die Haare aus der Stirn.
»Wie spät ist es denn?« Meine Stimme klingt verschlafen.
»Kurz vor drei.« Alex setzt sich auf und springt vom Bett, dann reicht er mir eine Hand und zieht mich hoch. »Wir müssen zurück über die Grenze, bevor Dornröschen aufwacht.«
»Dornröschen?« Ich schüttele verwirrt den Kopf.
Alex lacht leise. »Nach der Lyrik«, sagt er und beugt sich vor, um mir einen Kuss zu geben, »machen wir mit Märchen weiter.«
Dann geht es wieder durch den Wald; die kaputte StraÃe entlang, an den ausgebombten Häusern vorbei; und weiter durch den Wald. Die ganze Zeit fühle ich mich so, als wäre ich noch gar nicht richtig wach. Ich bin noch nicht mal ängstlich oder nervös, als wir über den Zaun klettern. Es ist jetzt beim zweiten Mal deutlich einfacher, den Stacheldraht zu überwinden, und die Schatten kommen mir wie etwas Festes vor, das uns abschirmt wie ein Umhang. Der Wachmann in Wachhaus einundzwanzig liegt immer noch in derselben Position da â den Kopf zurückgelegt, die FüÃe auf dem Schreibtisch, den Mund offen â, und schon bald schlängeln wir uns am Rand der Bucht entlang zurück. Dann schleichen wir durch die StraÃen nach Deering Highlands und da kommt mir ein äuÃerst seltsamer, unheimlicher Gedanke: dass das hier alles vielleicht nur ein Traum ist und wenn ich aufwache, bin ich wieder in der Wildnis. Vielleicht â ich wünsche es mir beinahe â wache ich auf und stelle fest, dass ich schon immer dort war und dass ganz Portland â mit seinen Labors, der Ausgangssperre und dem Eingriff â nur ein langer, verworrener Albtraum war.
Brooks Street 37. Durchs Fenster rein, Hitze und Modergeruch türmen sich vor uns auf wie eine Mauer. Ich habe nur ein paar Stunden in der Wildnis verbracht und doch vermisse ich es bereits â den Wind zwischen den Bäumen, der genauso klingt wie das Meer, den unglaublichen Geruch nach blühenden Pflanzen, das unsichtbare Trippeln â, all das Leben, das in alle Richtungen drängt und sich ausdehnt, immer und immer weiter â¦
Keine Mauern â¦
Dann führt Alex mich zum Sofa und breitet eine Decke über mich, küsst mich und wünscht mir eine gute Nacht. Er hat Frühschicht in den Labors und gerade noch genug Zeit, nach Hause zu gehen und zu duschen, damit er
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