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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Mutter war es leichter zu glauben, dass er wirklich gestorben war. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie er an diesem Ort verrottet.« Er fährt weiter mit einem Finger über die Buchstaben, hin und her. »Als ich fünfzehn wurde, sagten mir meine Tante und mein Onkel die Wahrheit. Sie wollten, dass ich es erfuhr. Ich kam her, um ihn zu besuchen, aber …« Ich meine zu sehen, wie Alex schaudert, ein plötzliches Rucken seiner Schultern und seines Rückens. »Na ja, es war zu spät. Er war tot, seit ein paar Monaten schon, und hier begraben, wo seine Überreste nichts kontaminieren würden.«
    Mir ist übel. Die Mauern scheinen näher zu rücken, werden höher, schmaler und der Himmel wirkt weit entfernt, ein immer kleiner werdender Punkt. Wir kommen hier nie wieder raus, denke ich und hole dann tief Luft im Versuch, die Ruhe zu bewahren.
    Alex richtet sich auf. »Bereit?«, fragt er mich zum dritten Mal an diesem Morgen. Ich nicke, auch wenn ich nicht genau weiß, ob ich es wirklich bin. Er erlaubt sich ein winziges Lächeln und ich sehe ein kleines bisschen Wärme in seinen Augen aufblitzen. Dann ist er wieder ganz geschäftsmäßig.
    Ich werfe einen letzten Blick auf den Grabstein, bevor wir reingehen, versuche an ein Gebet oder irgendetwas Passendes zu denken, aber mir fällt nichts ein. Die Lehre der Wissenschaftler ist nicht ganz eindeutig, wenn es darum geht, was nach dem Tod passiert: Angeblich löst man sich in der himmlischen Materie, die Gott ist, auf und wird von ihm absorbiert, obwohl es auch heißt, dass die Geheilten in den Himmel kommen und für immer in perfekter Harmonie und Ordnung leben.
    Â»Dein Name.« Ich drehe mich zu Alex um. Er ist bereits an mir vorbei auf die Tür zugegangen. »Alex Warren.«
    Er nickt kaum wahrnehmbar mit dem Kopf. »Wurde mir zugeteilt«, sagt er.
    Â»Dein richtiger Name ist Alex Sheathes«, sage ich und er nickt wieder. Er hat einen geheimen Namen, genau wie ich. Wir stehen noch einen Moment da und sehen uns an, und in diesem Augenblick spüre ich unsere Verbindung so deutlich, dass es ist, als existierte sie plötzlich körperlich, würde zu einer Hand, die uns beschirmt, uns behütet. Das meinen die Leute immer, wenn sie über Gott reden: dieses Gefühl, gehalten und verstanden zu werden. Sich so zu fühlen kommt einem Gebet so nah es geht, daher folge ich Alex zurück nach drinnen und halte den Atem an, als uns wieder der fürchterliche Gestank entgegenschlägt.
    Ich gehe hinter Alex her durch verschiedene Flure. Das Gefühl von Stille und Frieden, das ich im Hof hatte, wird fast augenblicklich von Angst ersetzt. Stellenweise wird das Geheul lauter, fast durchdringend, und ich muss mir die Ohren zuhalten; dann verhallt es wieder. Einmal kommen wir an einem Mann in einem langen weißen Laborkittel vorbei, der aussieht wie mit Blut befleckt; er führt einen Patienten an einer Leine. Keiner von beiden sieht uns an, als wir vorbeigehen.
    Wir biegen so oft ab und gehen um so viele Kurven, dass ich mich schon frage, ob Alex sich verirrt hat, vor allem, als die Flure immer dreckiger werden und die Leuchten über uns noch spärlicher, so dass wir schließlich durch dichten Nebel und Dunkelheit gehen und eine einzelne Lampe mehr als fünf Meter geschwärzten Steingang erhellen muss. In bestimmten Abständen tauchen leuchtende Neonschilder wie aus dem Nichts in der Dunkelheit auf: BLOCK EINS , BLOCK ZWEI , BLOCK DREI , BLOCK VIER . Doch Alex geht immer weiter und als wir an dem Flur vorbeigehen, der zu Block fünf führt, mache ich ihn darauf aufmerksam, überzeugt, dass er sich vertan hat.
    Â»Alex«, sage ich, aber obwohl ich das Wort ausspreche, bekomme ich plötzlich keine Luft, weil wir genau in dem Moment an eine schwere Doppeltür mit einem kleinen Schild kommen, so schwach beleuchtet, dass ich es kaum lesen kann. Und trotzdem scheint es so hell zu brennen wie tausend Sonnen.
    Alex dreht sich zu mir um und zu meiner Überraschung wirkt er außer sich. Sein Kiefer zuckt, seine Augen sind schmerzerfüllt und ich kann erkennen, dass er sich dafür hasst, hier zu sein, dafür, derjenige zu sein, der es sagt, derjenige, der es mir zeigt.
    Â»Es tut mir leid, Lena«, sagt er. Über ihm glimmt das Schild in der Dunkelheit: BLOCK SECHS .

zweiundz w anzig
    Unregulierte Menschen sind grausam und unberechenbar;
gewalttätig und

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