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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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entfernt, den Blick zu Boden gerichtet. Er scheint die Friedlichkeit auch zu genießen, die Stille, die wie ein Schleier in der Luft hängt und alles mit Weichheit und Ruhe bedeckt. Der Himmel über uns ist noch dunkler als vorhin, bevor wir die Grüfte betreten haben: Vor all der Grauheit und dem Schatten wirkt das Gras lebendig und spannungsgeladen, als würde es von innen beleuchtet. Es wird jeden Moment zu regnen anfangen. Ich habe das Gefühl, als hielte die Welt den Atem an, balancierte, schwankte, bevor alles losbricht.
    Â»Hier.« Alex’ Stimme ertönt überraschend laut und erschreckt mich. »Genau hier.« Er zeigt auf eine Steinscherbe, die schief aus dem Boden ragt. »Hier ruht mein Vater.«
    Das Gras wird von Dutzenden solcher Steine durchbrochen, die auf den ersten Blick willkürlich verteilt wirken. Dann wird mir klar, dass sie absichtlich in die Erde gerammt worden sind. Einige von ihnen sind mit verblichenen schwarzen Zeichen bedeckt, die meisten unleserlich, obwohl ich auf einem Stein das Wort RICHARD erkenne und auf einem anderen GESTORBEN .
    Grabsteine, dämmert es mir. Wir stehen mitten auf einem Friedhof.
    Alex starrt auf ein großes Stück Beton hinab, so flach wie eine Tafel, das vor seinen Füßen in die Erde gedrückt liegt. Dort ist die ganze Schrift sichtbar, es sieht aus, als hätte sie jemand immer wieder sorgfältig nachgezogen – vielleicht mit schwarzem Filzstift, die Buchstaben sind an den Rändern leicht verschwommen. Da steht: Hier ruht in Frieden WARREN SHEATHES .
    Â»Warren Sheathes«, sage ich. Am liebsten würde ich den Arm ausstrecken und meine Hand in Alex’ schieben, aber ich glaube nicht, dass wir hier sicher sind. Im Erdgeschoss führen ein paar Fenster auf den Hof heraus, und obwohl auch sie völlig verdreckt sind, könnte jeden Moment jemand vorbeigehen, hinausblicken und uns sehen. »Dein Vater?«
    Alex nickt, dann zuckt er mit den Schultern, eine plötzliche Bewegung, als versuchte er den Schlaf abzuschütteln. »Ja.«
    Â»Er war hier?«
    Einer von Alex’ Mundwinkeln verzieht sich zu einem Lächeln, aber der Rest seines Gesichts bleibt steinern. »Vierzehn Jahre lang.« Mit dem Zeh malt er langsam einen Kreis in die Erde, das erste körperliche Anzeichen für Unbehagen oder Ablenkung. In diesem Augenblick bewundere ich ihn: Seit ich ihn kenne, hat er mich immer nur unterstützt und getröstet und mir zugehört, und die ganze Zeit über hat er das Gewicht seiner eigenen Geheimnisse mit sich herumgeschleppt.
    Â»Was ist passiert?«, frage ich leise. »Ich meine, was hat er …?« Ich breche ab. Ich will ihn nicht drängen.
    Alex wirft mir einen kurzen Blick zu und schaut dann weg. »Was er getan hat?«, fragt er. Die Härte ist in seine Stimme zurückgekehrt. »Ich weiß es nicht. Was all die Leute, die in Block sechs enden, getan haben. Er hat selbstständig gedacht. Sich für das eingesetzt, woran er glaubte. Nicht nachgegeben.«
    Â»Block sechs?«
    Alex meidet sorgfältig meinen Blick. »Der Todesblock«, sagt er leise. »In erster Linie für politische Gefangene. Sie sind alle in Einzelhaft. Und niemand wird je freigelassen.« Er zeigt auf die anderen Steinscherben, die aus dem Gras ragen, Dutzende improvisierte Gräber. »Niemand«, wiederholt er und ich muss an das Schild an der Tür denken: LEBENSLÄNGLICHE , HAHA .
    Â»Es tut mir so leid, Alex.« Ich würde alles dafür geben, ihn berühren zu können, aber das Einzige, was ich tun kann, ist, ein bisschen näher zu rücken, so dass unsere Körper nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind.
    Da sieht er mich an und lächelt traurig. »Er und meine Mutter waren erst sechzehn, als sie sich kennenlernten. Kannst du dir das vorstellen? Sie war erst achtzehn, als sie mich bekam.« Er geht in die Hocke und fährt den Namen seines Vaters mit dem Daumen nach. Plötzlich begreife ich, dass er so oft herkommt, um die Buchstaben immer wieder nachzuziehen, wenn sie verblassen, damit eine Erinnerung an seinen Vater erhalten bleibt. »Sie wollten zusammen weglaufen, aber er wurde geschnappt, bevor sie es in die Tat umsetzen konnten. Ich habe nicht gewusst, dass er in Haft war. Ich dachte einfach, er sei tot. Meine Mutter meinte, das sei besser für mich, und in der Wildnis kannte niemand die Wahrheit. Ich glaube, für meine

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