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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Butter, die mitten auf dem Tisch vor sich hin schmilzt, und zwinge mich zum Essen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein gutes, altes Familien-Verhör. »Ich bin nur müde.«
    Carol dreht sich zu mir um. Ihr Gesicht erinnert mich immer an das einer Puppe. Selbst wenn sie redet, selbst wenn sie gereizt oder glücklich oder verwirrt ist, bleibt ihr Gesichtsausdruck immer eigenartig unbewegt. »Konntest du nicht schlafen?«
    Â»Geschlafen hab ich schon«, sage ich, »ich hab nur schlecht geträumt, das ist alles.«
    Am anderen Ende des Tisches hebt Onkel William unvermittelt den Kopf von seiner Zeitung. »O Gott. Weißt du was? Jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich habe letzte Nacht auch etwas geträumt.«
    Carol hebt die Augenbrauen und sogar Jenny scheint interessiert. Es ist ausgesprochen ungewöhnlich, dass ein Geheilter träumt. Carol hat mir mal gesagt, dass ihre Träume in den seltenen Fällen, wenn sie noch träumt, von Geschirr handeln, Stapel um Stapel, die in den Himmel klettern, und manchmal klettert sie daran hoch, von Tellerrand zu Tellerrand zieht sie sich bis in die Wolken und versucht den Gipfel des Stapels zu erreichen. Aber er hört nie auf. Er dehnt sich bis ins Unendliche. Meine Schwester Rachel träumt, soweit ich weiß, nie.
    William lächelt. »Ich habe das Badezimmerfenster abgedichtet. Weißt du noch, Carol, dass ich neulich gesagt habe, dass es da reinzieht? Wie auch immer, ich habe die Dichtungsmasse reingespritzt, aber immer, wenn ich gerade fertig war, schmolz sie weg – fast wie Schnee – und der Wind kam wieder durch und ich musste von vorne anfangen. Immer und immer wieder – stundenlang, so hat sich’s zumindest angefühlt.«
    Â»Wie eigenartig«, sagt meine Tante lächelnd und kommt mit einem Teller Spiegeleier an den Tisch. Mein Onkel mag sie ganz flüssig, und wie sie da mit Öl besprenkelt auf dem Teller liegen, wabbelt und schwabbelt das Eigelb, als würde es Hula-Hoop tanzen. Mein Magen verkrampft sich.
    William sagt: »Kein Wunder, dass ich heute Morgen so müde bin. Ich habe die ganze Nacht gearbeitet.«
    Alle lachen, nur ich nicht. Ich würge ein Stück Toast herunter und frage mich, ob ich noch träumen werde, wenn ich geheilt bin.
    Ich hoffe nicht.
    Das ist das erste Jahr seit der sechsten Klasse, in dem ich keine einzige Stunde zusammen mit Hana habe, daher sehe ich sie erst nach der Schule, als wir uns in der Umkleidekabine treffen, um laufen zu gehen, auch wenn die Crosslaufsaison seit ein paar Wochen zu Ende ist. (Als wir mit der Mannschaft zu den Regionalmeisterschaften gefahren sind, war das erst das dritte Mal, dass ich Portland verlassen habe, und obwohl wir nur sechzig Kilometer den grauen, kahlen Highway entlanggefahren sind, konnte ich die ganze Zeit kaum schlucken, weil meine Kehle so rau war wie Schmirgelpapier.) Hana und ich versuchen trotzdem so oft wie möglich zusammen zu laufen, sogar in den Schulferien.
    Ich habe mit sechs damit angefangen, nachdem meine Mutter Selbstmord begangen hatte. Der Tag, an dem ich zum ersten Mal über einen Kilometer weit lief, war der Tag ihrer Beerdigung. Man hatte mir gesagt, ich solle mit meinen Cousins und Cousinen oben bleiben, während meine Tante das Haus für die Feier danach herrichtete und das ganze Essen auftrug. Marcia und Rachel sollten mich fertig machen, aber während sie mir beim Anziehen halfen, fingen sie plötzlich wegen irgendwas an zu streiten und achteten nicht mehr auf mich. Also ging ich runter, den Reißverschluss am Rücken meines Kleides halb hochgezogen, um meine Tante um Hilfe zu bitten. Mrs Eisner, die damals neben meiner Tante wohnte, war auch da. Als ich in die Küche kam, sagte sie gerade: »Es ist natürlich furchtbar. Aber es gab sowieso keine Hoffnung mehr für sie. So ist es viel besser. Es ist auch besser für Lena. Wer will schon so eine Mutter?«
    Das war nicht für meine Ohren bestimmt. Mrs Eisner schnappte erschrocken nach Luft, als sie mich sah, und ihr Mund klappte schnell zu, wie ein Korken, der zurück in die Flasche fährt. Meine Tante stand einfach nur da, und in diesem Augenblick war es, als würden sich die Welt und die Zukunft in einem einzigen Punkt vereinen, und ich begriff, dass das hier – die Küche, die makellosen cremefarbenen Linoleumböden, die strahlenden Lampen und die knallgrüne Götterspeise auf der

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