Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Agha stand vor mir, ohne Oberkleid und Turban. Die Scheitellocke hing ihm schreckensmatt in das Gesicht hinab; der Schnurrbart sträubte sich voll Entsetzen zu ihr empor, und die von dem genossenen Weine noch trüben Augen versuchten ein Rollen, welches sehr unglücklich ausfiel.
»Was gibt es?« frug ich sehr ruhig.
»Erhebe Dich! Es ist etwas Entsetzliches geschehen!«
Erst nach und nach brachte ich aus ihm heraus, daß der Mutesselim die Flucht des jungen Arabers entdeckt habe und nun in fürchterlicher Wuth sei. Der geängstigte Agha bat mich inständig, mit ihm in das Gefängniß zu gehen und den Mutesselim zu beschwichtigen.
In kurzer Zeit befanden wir uns auf dem Wege. Unter der Gefängnißthüre wartete der Mutesselim auf den Agha. Er dachte gar nicht daran, mich zu begrüßen, sondern faßte Selim beim Arme und zog ihn in den Gang, in welchem die zitternden Wächter standen.
»Unglücklicher, was hast Du gethan!« brüllte er ihn an.
»Ich, Herr? Nichts, gar nichts habe ich gethan!«
»Das ist ja eben Dein Verbrechen, daß Du nichts, gar nichts gethan hast! Du hast nicht aufgepaßt!«
»Wo sollte ich aufpassen, Effendi?«
»Hier im Gefängnisse natürlich!«
»Ich konnte ja nicht herein!«
Der Mutesselim starrte ihn an. Dieser Gedanke schien ihm noch gar nicht gekommen zu sein.
»Ich hatte ja keinen Schlüssel!« fügte der Agha hinzu.
»Keinen Schlüssel – – –! Ja, Agha, das ist wahr, und das ist auch Dein Glück, sonst wäre Dir sehr Übles widerfahren. Komm her, und sieh einmal in das Loch hinab!«
Wir schritten den Gang hinter. Die Zellenthüre war geöffnet, und in dem Loche war nichts zu sehen, als das Loch.
»Fort!« meinte der Agha.
»Ja, fort!« zürnte der Mutesselim.
»Wer hat ihm aufgemacht?«
»Ja, wer? Sage es, Agha!«
»Ich nicht, Herr!«
»Ich auch nicht! Nur die Wächter waren da.«
Der Agha drehte sich nach diesen um.
»Kommt einmal her, Ihr Hunde!«
Sie traten zögernd näher.
»Ihr habt hier geöffnet!«
Der Sergeant wagte es, zu antworten:
»Agha, es hat Keiner von uns einen Riegel berührt. Wir haben die Thüren erst am Nachmittage zu öffnen, wenn das Essen gegeben wird, und so ist nicht eine einzige geöffnet worden.«
»So war ich der Erste, welcher diese Thüre hier öffnete?« frug der Commandant.
»Ja, Effendi!«
»Und als ich öffnete, war das Loch leer. Er ist entflohen. Aber wie hätte er herausgekonnt? Gestern Abend war er noch da; jetzt ist er fort. Zwischen dieser Zeit seid nur Ihr dagewesen. Einer von Euch hat ihn herausgelassen!«
»Ich schwöre bei Allah, daß wir diese Thüre nicht geöffnet haben!« versicherte zitternd der Sergeant.
»Mutesselim,« nahm ich jetzt das Wort, »diese Leute haben keinen Thorschlüssel gehabt. Wenn Einer von ihnen den Gefangenen herausgelassen hätte, so müßte er noch im Hause sein.«
»Du hast Recht; ich habe ja alle beide Schlüssel,« meinte er. »Wir werden Alles durchsuchen.«
»Und schicke auch auf die Wache, um die Mauern der Stadt und die Klippen zu untersuchen. Wenn er die Stadt verlassen hat, so ist es sicher nicht durch eines der Thore, sondern über die Mauer weg geschehen, und dann glaube ich bestimmt, daß eine Spur von ihm gefunden wird. Seine Kleidung ist in diesem Loche so verschimmelt und vermodert, daß sie den Weg über die Felsen gewiß nicht ausgehalten hat.«
»Ja,« gebot er einem der Arnauten, »laufe eilig zur Wache und bringe meinen Befehl, daß die ganze Stadt durchsucht werde.«
Es begann jetzt ein sehr sorgfältiges Durchsuchen des Gefängnisses, welches wohl eine ganze Stunde dauerte. Natürlich aber wurde nicht die geringste Spur von dem Entflohenen entdeckt. Eben wollten wir das Gefängniß verlassen, als zwei Arnauten erschienen, welche mehrere Kleiderfetzen trugen.
»Wir fanden diese Stücke draußen über dem Abgrund hangen,« meldete der Eine.
Der Agha nahm das Zeug in die Hand und prüfte es.
»Effendi, das ist von dem Überkleide des Gefangenen,« berichtete er dem Mutesselim. »Ich kenne es genau!«
»Bist Du dessen sicher?«
»So sicher wie meines Bartes.«
»So ist er dennoch aus diesem Hause entkommen!«
»Aber wohl in den Abgrund gestürzt,« fügte ich hinzu.
»Laßt uns gehen und nachsehen!« gebot er.
Wir verließen das Gefängniß und kamen an den Ort, an welchem ich das Gewand zerrissen und vertheilt hatte. Ich wunderte mich jetzt am Tage, daß ich nicht während der nächtlichen Dunkelheit hinab in den Schlund gestürzt war. Der Mutesselim
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