Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
besah sich das Terrain.
»Er ist hinuntergestürzt und sicher todt. Von da unten ist kein Auferstehen! Aber wann ist er entkommen?«
Diese Frage blieb natürlich unbeantwortet, so sehr sich der Commandant während einiger Stunden auch Mühe gab, dem Geheimnisse auf die Spur zu kommen. Er wüthete und tobte gegen einen Jeden, der ihm nahe kam, und so war es kein Wunder, wenn ich seine Nähe mied. Die Zeit wurde mir trotzdem nicht lang, denn ich hatte genug zu thun. Zunächst wurde ein Pferd für Amad el Ghandur eingekauft, und dann ging ich zu meiner Patientin, die ich bis jetzt vernachlässigt hatte.
Vor der Thüre des Hauses stand ein gesatteltes Maulthier; es war für ein Frauenzimmer bestimmt. Im Vordergemach stand der Vater, welcher mich mit Freuden bewillkommte.
Ich fand die Kranke aufrecht sitzend; ihre Wangen waren bereits wieder leicht geröthet und ihre Augen frei von allen Spuren des Unfalles. An ihrem Lager standen die Mutter und die Urahne. Diese Letztere befand sich in Reisekleidern. Sie hatte über ihr weißes Gewand einen schwarzen, mantelähnlichen Umhang geschlagen, und auf ihrem Kopfe war ein ebenso schwarzer Schleier befestigt, welcher jetzt über den Rücken herabhing. Das Mädchen reichte mir sofort die Hand entgegen.
»Oh, ich danke Dir, Effendi, denn nun ist es sicher, daß ich nicht sterben werde!«
»Ja, sie wird leben,« sagte die Alte. »Du bist das Werkzeug Gottes und der heiligen Jungfrau gewesen, mir ein Leben zu erhalten, welches mir theurer ist, als Alles auf Erden. Reichthümer darf ich Dir nicht bieten, denn Du bist ein großer Emir, der da Alles hat, was er braucht; aber sage mir, wie ich Dir danken soll, Effendi!«
»Danke Gott anstatt mir, dann kommt Dein Dank an die rechte Stelle; denn er ist es gewesen, der Dein Enkelkind gerettet hat!«
»Ich werde es thun und auch für Dich beten, Herr, und das Gebet eines Weibes, welches bereits nicht mehr der Erde angehört, wird Gott erhören. Wie lange bleibst Du in Amadijah?«
»Nicht lange mehr.«
»Und wohin gehest Du?«
»Das soll Niemand wissen, denn es wird vielleicht Gründe geben, es zu verschweigen. Euch aber kann ich sagen, daß ich nach Sonnenaufgang reiten werde.«
»So gehest Du nach derselben Gegend, nach welcher auch ich abreise, Herr. Mein Thier wartet meiner bereits vor dem Hause. Vielleicht sehen wir einander niemals wieder; darum nimm den Segen einer alten Frau, die Dir nichts weiter geben darf, aber auch nichts Besseres geben kann! Aber ein Geheimniß will ich Dir verrathen, denn es kann Dir vielleicht von Nutzen sein. Über den Osten von hier brechen böse Tage herein, und es ist möglich, daß Du einen dieser Tage erlebst. Kommst Du in Noth und Gefahr an einer Stelle, welche zwischen Aschiehtah und Gunduktha, dem letzten Orte von Tkhoma, liegt, und es kann Dir Niemand helfen, so sage dem Ersten, der Dir begegnet, daß Dich der Ruh ‘i kulyan beschützen wird. Hört er Dich nicht, so sage es weiter, bis Du Einen findest, der Dir Auskunft gibt.«
»Der Ruh ‘i kulyan? Der Höhlengeist? Wer führt diesen sonderbaren Namen?« frug ich die Hundertjährige.
»Das wird Dir Niemand sagen können.«
»Aber Du sprichst von ihm und kannst mir wohl Auskunft geben?«
»Der Ruh ‘i kulyan ist ein Wesen, das Niemand kennt. Er ist bald hier, bald dort, überall wo ein Bittender ist, der es verdient, daß seine Bitte erfüllt werde. An vielen Dörfern gibt es einen bestimmten Ort, an welchem man zu gewissen Zeiten mit ihm reden kann. Dahin gehen die Hilfesuchenden um Mitternacht und sagen ihm, was sie von ihm begehren. Er gibt dann Rath und Trost, aber er weiß auch zu drohen und zu strafen, und mancher Mächtige thut, was er von ihm begehrt. Nie wird vor einem Fremden von ihm gesprochen; denn nur die Guten und die Freunde dürfen wissen, wo er zu finden ist.«
»So wird mir Dein Geheimniß keinen Nutzen bringen.«
»Warum?«
»Man wird mir nicht sagen, wo er zu finden ist, obgleich man sieht, daß ich seinen Namen kenne.«
»So sage nur, daß ich Dir von ihm erzählt habe; dann wird man Dir den Ort sagen, wo er zu finden ist. Mein Name ist bekannt im ganzen Lande von Tijari, und die Guten wissen, daß sie meinen Freunden vertrauen dürfen«
»Wie lautet Dein Name?«
»Marah Durimeh heiße ich.«
Das war eine geheimnißvolle Mittheilung, die aber so abenteuerlich klang, daß ich nicht den mindesten Werth auf sie legte. Ich verabschiedete mich und ging nach Hause. Dort merkte ich, daß es ungewöhnlich laut in
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