Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Kunde. Und siehe meine Leute an! Wie soll ich mit ihnen zum Kampfe ziehen?«
Der Mann dauerte mich wirklich. Es war sehr leicht zu erkennen, daß er sich auf seine Leute nicht verlassen könne. Der so lange auf ihnen lastende Druck hatte sie entmannt. Zu einem hinterlistigen Überfall hatten sie gestern den Muth gehabt; heute aber, wo es nun galt, die Folgen davon zu tragen, mangelte es ihnen an der nöthigen Thatkraft. Es war nicht eine Spur von militärischer Zucht zu bemerken; sie glichen einer Heerde von Schafen, welche gedankenlos den Wölfen entgegen rennen.
Auch der Melek selbst machte nicht den Eindruck eines Mannes, welcher die jetzt so nöthige Willenskraft und Widerstandsfähigkeit besaß. Es war mehr als Sorge, es war fast Angst, die sich auf seinem Angesicht abspiegelte, und vielleicht wäre es von Nutzen für ihn gewesen, wenn Nedschir-Bey sich noch an seiner Seite befunden hätte. Es war mir sehr klar, daß die Chaldäer gegen die Berwari-Kurden den Kürzeren ziehen würden. Daher antwortete ich auf die Klage des Melek:
»Willst Du meinen Rath hören?«
»Sage mir ihn!«
»Die Kurden sind Euch überlegen. Es gibt nur zwei Wege, die Du jetzt einschlagen kannst. Du ziehst Dich mit den Deinen schleunigst auf das andere Ufer des Flusses zurück und vertheidigst den Übergang. Dadurch gewinnst Du Zeit, Verstärkungen an Dich zu ziehen.«
»Dann aber muß ich ihnen Alles opfern, was am rechten Ufer liegt.«
»Sie werden dies ohnehin nehmen.«
»Welches ist der zweite Weg?«
»Du unterhandelst mit ihnen.«
»Durch wen?«
»Durch mich.«
»Durch Dich? Chodih, willst Du mir entfliehen?«
»Das fällt mir gar nicht ein, denn ich habe Dir ja mein Wort gegeben.«
»Werden sich diese Kurden auf Unterhandlungen einlassen, nachdem wir sie gestern überfallen haben?«
»Ist nicht ihr Anführer Dein Gefangener? Das gibt Dir eine große Macht über sie.«
»Du bist ihr Gastfreund: Du wirst so mit ihnen verhandeln, daß sie den Nutzen, wir aber den Schaden haben.«
»Ich bin auch Dein Gastfreund; ich werde so mit ihnen reden, daß beide Theile zufrieden sein können.«
»Sie werden Dich festhalten; sie werden Dich nicht wieder zu mir zurückkehren lassen.«
»Ich lasse mich nicht halten. Sieh mein Pferd an! Ist es nicht zehnmal mehr werth, als das Deinige?«
»Fünfzigmal, nein, hundertmal mehr, Herr!«
»Glaubst Du, daß ein Krieger so ein Thier im Stiche läßt?«
»Niemals!«
»Nun wohl! Laß uns einstweilen tauschen! Ich lasse Dir meinen Rapphengst als Pfand zurück, daß ich wiederkomme.«
»Ist dies Dein Ernst?«
»Mein vollständiger. Vertraust Du mir nun?«
»Ich glaube und vertraue Dir. Willst Du Deinen Diener auch mitnehmen?«
»Nein, er wird bei Dir bleiben: denn Du kennst mein Pferd nicht genau. Es muß jemand bei Dir sein, der den Hengst richtig zu behandeln versteht.«
»Hat es ein Geheimniß, Herr?«
»In der That.«
»Chodih, dann ist es für mich gefährlich, das Roß zu reiten. Dein Diener mag es besteigen, und Du nimmst das seinige, während er bei mir zurückbleibt.«
Das war es ja eben, was ich wünschte. Mein Pferd war in den Händen des kleinen Hadschi Halef Omar jedenfalls besser aufgehoben, als in denen des Melek, der nur ein gewöhnlicher Reiter war. Darum antwortete ich:
»Ich füge mich in Deinen Willen. Erlaube, daß ich sofort die Thiere wechsele!«
»Sogleich, Herr?«
»Allerdings. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Wirst Du die Kurden wirklich finden?«
»Sie werden schon dafür sorgen, daß sie gar zu bald gefunden werden. Aber, könnten wir nicht meine beiden Vorschläge vereinigen? Wenn Deine Leute mit den Berwari in’s Handgemenge kommen, ehe man mich gehört hat, so ist Alles verloren. Gehe mit ihnen über den Fluß zurück, so habe ich mehr Hoffnung auf Erfolg!«
»Aber wir geben uns da in ihre Hände!«
»Nein, Ihr entkommt ihnen und gewinnt Zeit. Wie wollen sie Euch angreifen, wenn Ihr die Brücke besetzt?«
»Du hast Recht, Herr, und ich werde sofort das Zeichen geben.«
Während ich vom Pferde sprang und Halef’s Thier bestieg, setzte der Melek eine Muschel an den Mund, welche an seiner Seite gehangen hatte. Der dumpfe, aber kräftige Ton war weithin vernehmbar. Die Chaldani kamen von allen Seiten zurückgeeilt, denn diese Richtung behagte ihnen weit mehr als diejenige eines gefährlichen Angriffes auf die tapfern und wohlbewaffneten Kurden. Ich hingegen ritt vorwärts, nachdem ich Halef einige Verhaltungsmaßregeln ertheilt hatte,
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