Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
mich mehrere Schritte weiter fort. Es war gelungen, und ich holte tief, tief Athem. Aber was nun? Zunächst nur aus seiner Nähe, um zu überlegen!
Ich huschte eine ganze Strecke weiter fort und lehnte mich dann an die Mauer. Was sollte ich jetzt thun? Immer tiefer in den Gang hineinlaufen? Der Kodscha Pascha hatte ja von der großen Gefährlichkeit dieser Gänge gesprochen! Oder kurzweg mit dem Menschen ringen, um ihn zu überwältigen und zu zwingen, mir den richtigen Weg zu zeigen? Nein. Er hatte Schußwaffen; ich hätte ihn nicht überwältigen können, ohne ihn zu tödten; und seine Leiche konnte mir ja nicht als Wegweiser dienen.
Es waren höchst unheimliche Minuten. Auch er beobachtete die größte Geräuschlosigkeit. Blieb er stehen? Kam er auf mich zu oder von mir ab? Er konnte jeden Augenblick auf mich stoßen. Ah pah, diese unterirdischen Gänge konnten ja nicht von einer gar so großen Ausdehnung sein! Ich tastete mich also in der bisher eingehaltenen Richtung weiter fort, den Boden stets erst mit dem Zehentheile der Schuhe sondirend, ehe ich den ganzen Fuß aufsetzte. So mochte ich fast gegen zweihundert kleine Schritte vorwärts gekommen sein, als die Luft feuchter und kühler zu werden schien. Jetzt galt es doppelte Vorsicht! Und wirklich, kaum fünf Schritte weiter hörte der Fußboden auf. Ich ließ mich nieder und tastete umher. Der Rand des Bodens bildete ein großes rundes Loch, welches die ganze Breite des Ganges einnahm. Das war jedenfalls ein Brunnen gewesen. Noch zurStunde befand sich Wasser darinnen, wie die Feuchtigkeit der Luft bewies. Wer weiß, welche Tiefe er besaß! Wer da hinunterstürzte, kam nimmer wieder empor.
Dem Kreisausschnitte nach mußte die Brunnenöffnung einen Durchmesser von etwa drei Ellen haben. Ich hätte sie also wohl überspringen können, aber ich kannte die Beschaffenheit des gegenüber liegenden Randes nicht. Vielleicht befand sich der Brunnen hart am Ende des Ganges, und drüben war Mauer. Dann mußte der Sprung mein letzter werden.
Nach dieser Seite gab es also keine Rettung für mich; ich mußte umkehren. Das war nun freilich ein schlimmer Umstand! Der Feind schwieg. Lag er noch dort, wo ich ihn verlassen hatte, auf der Lauer, weil er wußte, daß ich gezwungen sei, zurückzugehen? Oder glaubte er noch immer, ich sei nach der andern Richtung entflohen? Oder war er einfach, um ganz sicher zu gehen, nach dem Ausgange geeilt, um diesen zu besetzen? Wie dem auch sein mochte, stehen bleiben konnte ich nicht. Ich nahm also das Messer zwischen die Zähne, legte mich nieder und kroch auf den Knieen und Handballen wieder zurück.
Gehen durfte ich nicht, aber beim Kriechen konnte ich mit den langsam und leise vorantastenden Fingerspitzen den Raum vor mir erst vorsichtig abfühlen, ehe ich den Körper folgen ließ.
So schob ich mich weiter, langsam, sehr langsam zwar, aber doch immer weiter und weiter. Ich hatte nun bereits über zweihundertmal gezählt, daß ich die Kniee fortgesetzt hatte, und mußte also schon über die Stelle hinaus sein, auf welcher ich gelegen hatte. Aber zu diesen zweihundert Schritten hatte ich sicher weit über eine Stunde gebraucht. Noch eine halbe Stunde verging, da hörte die Mauer auf, sowohl an der rechten wie auch an der linken Seite von mir; der Fußboden jedoch lief fort.
Was war das? Rechts und links gab es eine Ecke; folglich stieß der Gang, in welchem ich bisher gewesen war, auf einen andern Gang, und zwar in einem rechten Winkel. Setzte er sich drüben wieder fort? In diesem Falle bildeten die beiden Gänge hier einen Kreuzungspunkt, auf welchem sich Abrahim Mamur befand. Ich lauschte mit angestrengtestem Ohre, konnte aber nicht das leiseste Geräusch vernehmen. Zunächst mußte ich wissen, ob mein bisheriger Gang sich drüben fortsetzte; ich schob mich also in dieser Richtung weiter. Mein Athem ging ruhig, und mein Puls klopfte nicht anders als gewöhnlich; hier war die kälteste Ruhe und Besonnenheit nöthig.
Ich gelangte drüben an und überzeugte mich, daß eine Fortsetzung des Ganges vorhanden sei. Welche Richtung sollte ich nun einschlagen? Gerade aus oder nach links? Die Luft war nach allen drei Richtungen hin unbeweglich und von gleicher Temperatur und Feuchtigkeit; auch die Finsterniß war gleich dicht und undurchdringlich. Ich überlegte. Befand sich Abrahim hier, so stand er gewiß an derjenigen Seite, welche in das Freie führte; stand er aber nicht hier, so hatte er den Ausgang besetzt.
Vor dem neu aufgefundenen
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