Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Zusammenlegen ihrer zarten Blätter verkünden; andere erwachen und entfalten sich erst des Nachts. Das schüchterne Fühlgraut verräth sogar thierische Empfindung; es legt, wenn man es verwundet, seine Blätter zusammen und zieht seine Zweige ein.
Hier ist die verschwimmende Grenze, wo Pflanzen-und Thierreich aneinander hangen. Die edle Blutkoralle wächst, wie fast alle ihres Gleichen, baumförmig im Grunde des Meeres, aber sie enthält einen nackten Wurm, der dies steinige, harte Gewebe aufführt und lebt und sich nährt. Ganze große Inseln des Meeres sind aus Korallen, aus diesen Gebäuden schwacher Würmer, hervorgegangen und tragen jetzt Wälder und menschliche Wohnplätze.
Der Polyp im Wasser gleicht einer fadenförmigen, schleimigen Pflanze; er hat Aeste und Zweige. Zerschneidet man ihn, so wachsen neue Zweige und Aeste hervor. Aber ein Würmchen schwimmt durch’s Wasser und sogleich schlingen sich alle Aeste und Zweige jener Pflanze um das kleine Geschöpf, führen es zum obern Theil des Stengels, wo sich eine Oeffnung erweitert, um den Wurm zu verschlingen und Nahrung davon zu ziehen.
Unmerklich, wie der Uebergang von der vollkommensten Pflanze zum unvollkommensten Thiere, welches schon Empfindung und unwillkürliche Bewegung hat, schreitet die steigende Vollendung durch die ganze Kette der Thierwelt, von den einfachen Korallen zu den Muschelthieren, von den Muschelthieren zu den Insekten und kriechenden Thieren, von dem Geschlecht der Schlangen zum Aal des Wassers und zu den Geschöpfen der Meere, durch die Legionen der Fische bis zum Seelöwen und dem geflügelten Fisch, der sich in die Luft erhebt. Der Vogel, den statt der Schuppen Federn, statt der Flossen Flügel zieren, durchschneidet die Regionen der Wolken. Aber den geflügelten Thieren nähert sich von den Säugethieren die Fledermaus, und den vierfüßigen Thieren nähert sich der erhabene Strauß in den Wüsten, der mehr läuft als fliegt, und dessen Flügel nur den Dienst der Füße erleichtern.
Die vierfüßigen Thiere kommen in tausend mannigfaltigen Abstufungen allmälig der menschlichen Gewalt näher, und der Affe zeigt schon große Aehnlichkeit mit dem Menschen, sowohl in körperlicher als in geistiger Beziehung, der jedoch in letzterer höchstens die Stufe erreicht, auf welcher der Mensch nur in der frühen Kindheit seines Lebens steht, und welche derselbe, zu höherer Vollkommenheit aufsteigend, schnell verläßt.
Der Mensch aber, das erhabenste Glied der irdischen Wesenkette, geht mit aufgerichtetem Antlitz durch die Welt; sein Auge sieht zum Himmel; er beherrscht die Reiche der Steine, Pflanzen und Thiere. Er stürzt den Adler aus der Luft, er zieht den Fisch aus der Tiefe des Meeres. Ihn leitet nicht mehr der blinde, dunkle Instinct oder Naturtrieb, sondern eine Alles beleuchtende Vernunft ist sein Eigenthum. Er hat den freien Gedanken und die Gabe der Sprache. Mit seinem Geist erhebt er sich weit über sein eigenes Selbst; ihm strahlen die ersten Funken der im Bau des Weltalls ausgesprochenen göttlichen Offenbarung in die Seele, – der Mensch allein weiß hinieden von einem Gott. Er erhebt sich bis zu ihm und sinkt an seinem Throne nieder, und betet ihn im Staube der Erdenwelt an.
Vom himmlischen Lichte erleuchtet, eilt er den Weg zur Ewigkeit und streckt mit zitternder Freude die Hand nach der Krone der Unvergänglichkeit aus und schmückt damit sein unsterbliches Haupt. Welch’ ein ungeheurer Zwischenraum dehnt sich nicht zwischen dem todtfliegenden Samen staub und der erhabenen Menschenseele aus, die an Gott denkt! Welche Millionen Stufen und Stufen in unabsehbaren Reihen vom niedrigsten Geschöpf, das wir kennen, bis zu der Höhe, wo der Mensch steht!
Aber wie? Ist hier schon die letzte Höhe? Endet nun schon die Himmelsleiter der Schöpfung? Ragt der gebrechliche Mensch schon unmittelbar an die Majestät Gottes? Verlassen wir mit unserem Blick die Erde und schauen empor in jene Regionen, wo unzählbare Welten in unnennbaren Fernen schweben, die wir wegen ihrer ungeheuren Weite nur noch als glimmende Funken erkennen. Wie wird uns bei diesem Anblick? Wir sehen und ahnen neue Stufen, neue Wesen, neue Kräfte droben! Aber ein undurchdringlicher Schleier verhüllt uns dieses prachtvolle Schauspiel. Durch die Kunst der Fernröhre haben wir nur erfahren, daß jene kleinen Sterne Weltkörper sind, so groß und öfters noch tausendmal größer als der Erdball, der uns zum Wohnplatz angewiesen ist. Dem menschlichen
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