Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Martyrium und die Zukunft allein konnte erfüllen, was die Vergangenheit versprochen hatte, die Gegenwart aber versagt.
Das war der große Sturm, welcher zur Zeit der Völkerwanderung über die Erde ging. Es war ein Gewitter, dessen Wetterdräuen blendete, dessen Donner erschreckten, dessen Blitze vernichteten, aber es reinigte die Luft von giftigen Miasmen, und es war zu erwarten, daß, wenn seine Schrecken überstanden sein würden, die neugestärkte und befruchtete Erde ihre Blumen in wiedergekehrter Kraft und Schönheit emporsprießen, blühen und duften lassen werde. Mag der Sonnenaufgang noch so schwer sein, der Morgen ist doch da und ihm folgt der Tag des Wirkens, welcher Früchte reift und Segen bringt im Leben der Natur, des Menschen und der Völker.
Licht und Finsterniß
Unter den Gegensätzen, welche das irdische Leben uns bietet und aus denen sich alle Verhältnisse und Beziehungen des Daseins entwickeln, ist der von Licht und Finsterniß einer der bedeutendsten und hervorragendsten. Licht und Finsterniß ist ein Contrast, welchen wir nicht blos in Hinsicht auf die physikalischen Erscheinungen der Erde bemerken, sondern er macht sich ebenso auch auf geistiges Gebiete geltend und ist hier von eben solcher Schärfe, von eben solcher Bedeutung wie in dem Reiche der äußeren Erscheinungen.
»Gott schied Licht und Finsterniß,« sagt die Bibel, »da ward aus Abend und Morgen der erste Tag,« aber wie dieses Scheiden von Licht und Finsterniß kein nur einmaliges, kein vollständiges und absolutes war, so ist auch heute der erste Tag der Erdenwelt noch nicht vergangen und wir stehen noch immer am Anfange der großen Woche, auf welche der ewige Sabbath folgt.
Licht und Finsterniß, sie bestehen nicht mit wahrnehmbaren Grenzen neben einander, sondern sie gehen nach und nach, allmälig, in einander über, werden durch eine vermittelnde und wohlthuende Dämmerung mit einander verbunden. Es ist mit beiden wie mit jedem der großen kosmischen und tellurischen Gegensätze: sie sind nur scheinbare Gegensätze, sind nur verschiedene Erscheinungen, verschiedene Offenbarungen eines und desselben Gesetzes, einer und derselben Kraft, eines und desselben Zustandes.
Es giebt keine absolute Finsterniß, sondern der Strahl des himmlischen Lichtes dringt in jedem Raum, in jede Tiefe, welche sich vor dem schwachen Auge des Menschen in Dunkel und Undurchdringlichkeit hüllt. Und ebenso ist es auch auf den geistigen Gebiete: auch hier giebt es kein wirkliches Dunkel, keine vollständige Abwesenheit alles wirklichen Lichtes, sondern in der verwahrlosesten Seele und in dem Hirne des Idioten ebenso, wie in der tiefsten socialen Barbarei glimmt ein Funken des Gefühles, des denkenden Geistes, offenbart sich eine Möglichkeit der Versittlichung.
Nur in der physikalischen Natur giebt es Tag und Nacht, im Leben des Menschen, in demjenigen der Völker aber nicht. Der Mensch wird geboren; seine Seele ist eine unbeschriebene tabula rasa, eine Kraft, ein geistiges Wesen, welches erst zum Selbstbewußtsein kommen muß, um nach dem Lichte ringen zu können. Von Tag zu Tag aber steigt die Sonne der Erkenntniß höher; für sie giebt es kein Sinken, kein Abendroth, keinen Untergang, sondern mit dem letzten Augenblicke des Lebens hat auch sie die höchste Staffel erreicht und steigt hinüber in eine andere Welt, um dort dieselbe emporstrebende Bahn fortzusetzen. – Und die Völker werden geboren wie die Einzelmenschen: auch ihre Entwickelung wird eine immer höhere und vollkommenere, und wenn sie ihre höchste Stufe erreicht hat, so sinkt sie nicht wieder abwärts, sondern geht auf andere Nationen über, um von ihnen zu immer größerer Höhe getragen zu werden.
So kennt die Liebe auch nicht den Unterschied von Tag und Nacht, und wenn hier zwischen Licht und Finsterniß unterschieden wird, so gilt genau das eben jetzt Gesagte. Es ist »menschlich geredet«, die Liebe mit dem Lichte, den Egoismuß, den Haß, die Rache etc. aber mit der Finsterniß zu vergleichen, denn die sogenannten Negationen der Liebe sind auch Liebe, nur in anderer Offenbarung, in anderer Richtung, in einem anderen moralisch tieferen Grade; und wie dies im Leben des Individuums, so auch im Leben der Nationen, der ganzen Menschheit. In diesem Sinne ist es höchst berechtigt, wenn Christus, der größte der Philosophen, sagt: »Es muß ja Aergerniß kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen es kommt« – es kann nicht Jeder die gleiche Stufe der Liebe also
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