Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
nach London – erinnere ich mich. Das war bald nach meiner Rückkehr aus England, also wahrscheinlich im Jahr 62. Alles, als er eintraf, freute sich, ihn wiederzusehen, aber dies »Alles« hatte sich, wenigstens soweit unser Kreis in Betracht kam, seit jenem Winter 52, wo wir miteinander bekannt wurden, sehr verändert. Kugler und Merckel waren tot, »Frau Clara« und Heyse nach München übersiedelt, Roquette in Dresden; so fand er nur noch Zöllner, Eggers und mich. Er blieb denn auch nicht lange. Mit Zöllner und Eggers, die ganz vorzüglich zu ihm paßten, war er sehr intim, während sich ein gleich herzliches Verhältnis, trotz beiderseitig besten Willens, zwischen ihm und mir nicht herstellen lassen wollte. Wir waren zu verschieden. Er war für den Husumer Deich, ich war für die Londonbrücke; sein Ideal war die schleswigsche Heide mit den roten Erikabüscheln, mein Ideal war die Heide von Culloden mit den Gräbern der Camerons und Mac Intosh. Er steckte mir zu tief in Literatur, Kunst und Gesang, und was ein Spötter mal von dem Kuglerschen Hause gesagt hatte, »man beurteile da die Menschen lediglich im Hinblick darauf, ob sie schon einen Band Gedichte herausgegeben hätten oder nicht« –, dieser Satz paßte sehr gut auch auf Storm. Aber was unserer Intimität, und zwar viel, viel mehr als das verschiedene Maß unseres Interesses an künstlerischen Dingen im Wege stand, das war das, daß wir auch den Dingen des alltäglichen Lebens gegenüber gar so sehr verschieden empfanden. Um’s kurz zu machen, er hielt mich und meine Betrachtung der Dinge für »frivol«. Und das ärgerte mich ein bißchen, trotzdem es mir zugleich eine beständige Quelle der Erheiterung war. Man wolle mich hier nicht mißverstehen. Ich habe nichts dagegen, auch jetzt noch nicht, für frivol gehalten zu werden. Meinetwegen. Aber ich sehe mir die Leute, die mit solchem Urteil um sich werfen, einigermaßen ernsthaft an. Wenn Kleist-Retzow oder noch besser der von mir hochverehrte Pastor Müllensiefen, der mir immer als das Ideal eines evangelischen Geistlichen erschienen ist – wenn mir der jemals gesagt hätte: »Lieber F., Sie sind frivol«, so hätt’ ich mir das gesagt sein lassen, wenn auch ohne die geringste Lust, mich irgendwie zu ändern. Aber gerade von Personen, die vielleicht zu solchem Ausspruche berechtigt gewesen wären, sind mir derlei Dinge nie gesagt worden, sondern immer nur von solchen, die, meiner Meinung nach, in ihrer literarischen Produktion um vieles mehr auf der Kippe standen als ich selbst. Und zwar waren es immer Erotiker, Generalpächter der großen Liebesweltdomäne. Diesen Zweig meiner Kollegenschaft auf ihrem vorgeblichen Unschulds- und Moralgebiet zu beobachten, ist mir immer ein besonderes Gaudium gewesen. Die hier in Frage Kommenden unterscheiden nämlich zwei Küsse: den Himmelskuß und den Höllenkuß, eine Scheidung, die ich gelten lassen will. Aber was ich nicht gelten lassen kann, ist der diesen Erotikern eigene Zug, den von ihnen applizierten Kuß, er sei wie er sei, immer als einen »Kuß von oben«, den Kuß ihrer lyrischen oder novellistischen Konkurrenten aber immer als einen Kuß aus der entgegengesetzten Richtung anzusehen. Sie schlagen mit ihrem »Bauer, dat’s wat anners« selbst den vollwichtigsten Agrarier aus dem Felde. Zu dieser Gruppe der Weihekußmonopolisten gehörte nun Storm im höchsten Maße, trotzdem er Dinge geschrieben und Situationen geschildert hat, die mir viel bedenklicher erscheinen wollen als beispielsweise Heines berühmte Schilderung von einer dekolletiert auf einem Ball erscheinenden Embonpoint-Madame, hinsichtlich deren er versicherte, »nicht nur das Rote Meer, sondern auch noch ganz Arabien, Syrien und Mesopotamien« gesehen zu haben. Solche Verquickung von Übermut und Komik hebt Schilderungen der Art, in meinen Augen wenigstens, auf eine künstlerische Hochstufe, neben der die saubertuenden Wendungen der angeblichen Unschuldserotiker auch moralisch versinken.
Ich traf in jenen zweiundsechziger Tagen Storm meist im Zöllnerschen Hause, das, in bezug auf Gastlichkeit, die Kugler-Merckelsche Erbschaft angetreten hatte; noch öfter aber flanierten wir in der Stadt umher, und an einem mir lebhaft in Erinnerung gebliebenen Tage machten wir einen Spaziergang in den Tiergarten, natürlich immer im Gespräch über Rückert und Uhland, über Lenau und Mörike und »wie feine Lyrik eigentlich sein müsse«. Denn das war sein Lieblingsthema geblieben. Es mochte
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