Delphi sehen und sterben
Wenn ich hingegangen wäre, hätte ich sie vielleicht retten können.« Wenn er zum Zeitpunkt des Mordes da hineingeplatzt wäre, hätte der Mörder ihn möglicherweise auch erschlagen. »Als ich am nächsten Morgen hinkam …«
Er konnte nicht weitersprechen. Helena, die zäher war, als sie aussah, beschrieb ihm ruhig, wie er die Leiche gefunden hatte – der feindselige Aufseher, der ihm befahl, sie wegzubringen; das Zurücktragen seiner toten Frau zum Zelt der Gruppe; sein Schreien um Hilfe, auf das Cleonyma als Erste reagiert hatte. Er schien überrascht, dass wir das wussten. »Eine gute Frau«, sagte er knapp. Wir spürten, wie stoisch sie bei dem grausigen Anblick geblieben sein musste.
»Tullius Statianus, haben Sie Ihre Frau getötet?«, fragte Helena.
»Nein.«
Helena hielt seinen Blick fest. Er starrte nur mit einem Ausdruck müden Trotzes zurück. Die Frage war ihm schon zu oft gestellt worden, um darüber noch wütend zu werden. Er wusste, dass er der Hauptverdächtige war. Vermutlich wusste er inzwischen auch, dass es keine direkten Beweise gab, um ihn festzunehmen.
»Das muss alles sehr schwer für Sie sein«, meinte Helena mitfühlend.
»Wenigstens bin ich am Leben«, erwiderte er schroff.
Ich übernahm die Befragung und ging ihn erneut wegen seiner Beziehung zu Valeria an. Er wusste, dass ich nach einem Motiv stocherte. Wie alle Beziehungen war ihre kompliziert gewesen, aber es klang, als hätten sie ihr Schicksal realistisch betrachtet. Trotz des dauernden Zanks hatten sie eines gemeinsam, beide waren sie zum Nutzen anderer in diese Ehe gedrängt worden.
»Hätten Sie sich scheiden lassen? War es so schlimm?«
»Nein. Außerdem hätten sich meine Eltern gegen eine Scheidung gestellt. Ihre Verwandten wären ebenfalls enttäuscht gewesen.«
»Also haben Sie eine Übereinkunft erreicht?«, meinte Helena. Er nickte. Anscheinend hatte das Paar resigniert. Wenn sie diese Ehe aufgegeben hätten, wären sie beide in ihren gesellschaftlichen Kreisen nur in eine neue geschoben worden – was sich als noch schlimmer hätte herausstellen können.
Später sprachen Helena und ich darüber, ob Statianus die Situation mehr zuwider gewesen war, als er jetzt zugab. Hatte die Aussicht auf nörgelnde Eltern ihn dazu gezwungen, den Mord an Valeria als einzigen Ausweg zu sehen? Ich glaubte, bei ihr zu bleiben war die einfachste Möglichkeit – und er mochte die einfachen. Da wir seine Mutter kennengelernt hatten, meinte Helena, dass er, wenn er wirklich ausbrechen wollte, den Widerstand irgendwann hätte umschiffen können. Daher glaubte sie, dass die Ehe gehalten hätte. »Zumindest bis einer von ihnen jemanden gefunden hätte, der mehr Liebe anbot.«
»Oder mehr Spaß im Bett!«
»Ah, das hätte sicherlich gezählt«, stimmte Helena lächelnd zu.
Während wir mit ihm beim Gymnasion waren, setzte ich Statianus so hart wie möglich zu. »Würden Sie also sagen, Sie hätten gelernt, Ihre Frau zu ertragen – und dass sie dasselbe empfand?«
»Ich hätte ihr niemals weh getan.« Das beantwortete meine Frage nicht, und als er sah, dass ich unzufrieden war, blaffte er: »Das geht Sie nichts an!« Mir war klar, wie er mit solchem Verhalten Aquillius verärgert hatte.
»Wenn eine junge Frau brutal ermordet wird, werden all ihre Beziehungen zum Gegenstand öffentlichen Interesses, Statianus. Beantworten Sie also bitte meine Frage. War Valeria ruheloser als Sie?«
»Nein, ihr gefiel es nicht in Olympia, aber sie war glücklich mit mir!« Seine Frustration war deutlich zu erkennen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, Falco – ich habe Aelianus vertraut, und das ist der einzige Grund, weshalb ich mit Ihnen rede.« Jetzt übermannte ihn Selbstmitleid. »Ich werde das nie durchstehen.«
»Darum sollten Sie ja mit mir reden. Durch Herausfinden der Wahrheit helfe ich Menschen, ihren Schmerz zu bewältigen.«
»Nein. Sobald ich meine tote Frau dort sah, wusste ich, dass alles vorbei war. Alles hatte sich für immer verändert. Wer auch immer er war, dieser Mann, der ihr das Leben genommen hat – als sie sich noch kaum an einem wirklichen Leben hatte erfreuen können –, er hat auch mich zerstört. Wenn ich heimkehre, weiß ich, dass meine Brüder und meine Eltern es nicht verstehen werden. Ich muss das allein tragen. Das ist der Grund, warum ich in Griechenland geblieben bin«, sagte Statianus und beantwortete damit eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte.
Helena und ich schwiegen. Wir
Weitere Kostenlose Bücher