Delphi sehen und sterben
von Phineus erhalten hatte. Zum Hades, war Phineus etwa aus der Haft entkommen? Prompt machte ich mir Sorgen, wohin er verschwunden sein und was er planen könnte, während er auf der Flucht war.
»Was würdest du machen, wenn du der Mörder wärst und konventioneller als wir?«, fragte mich Helena. »Wir haben zynische Ansichten zu Orakeln, aber wenn du an sie glauben und befürchten würdest, Statianus könnte eines Tages die Wahrheit von einer Prophetin erfahren?«
»Ich würde ihn aufhalten wollen.«
»Du könntest Delphi für zu öffentlich halten. Du könntest Statianus veranlassen, zu einem abgeschiedeneren Orakel zu gehen, und ihn dort fertigmachen.«
Helena hatte recht. Uns blieb keine andere Wahl. Wir mussten nach Lebadaia und Statianus selbst wiederfinden.
Wir nahmen den Dichter mit. Er war ein Zeuge, und ich durfte ihn nicht verlieren oder riskieren, dass er hinter meinem Rücken unter Druck gesetzt wurde. Ich mochte ihn auch nicht zurücklassen, falls ihm die Nerven durchgingen und er sich aus dem Staub machte. Außerdem könnte der Mörder wissen, dass Lampon ein Zeuge war. Das könnte gefährlich für ihn sein.
Und Dichter können sich als nützlich erweisen, wenn man durch Landschaften reitet, die reich an Mythen und literarischen Verbindungen sind. Bis wir Lebadaia erreichten, hatte sich Lampon als gute Informationsquelle über das Heiligtum erwiesen, zu dem wir wollten. Es wurde das Orakel des Trophonios genannt. Die Böotier hatten dort ein Vermögen gemacht, weil sie verzweifelten Pilgern, die bei der Lotterie in Delphi kein Glück gehabt hatten, Prophezeiungen anboten. Aber was Orakel betraf (und meinetwegen können sich sämtliche Orakel zum Hades scheren), fand ich alles, was ich über dieses hörte, abscheulich.
Laut Lampon funktionierte das Orakel des Trophonius anders als das in Delphi. In Lebadaia gab es keine Pythia, die Schwachsinn brabbelte. Dem Bewerber wurde direkter Kontakt mit dem dort lebenden Göttlichen gestattet. Er erfuhr die Zukunft aus dem, was er sah und hörte. Die schlechte Nachricht war, dass er sich, um das zu erreichen, einer abstoßenden körperlichen Tortur unterziehen musste, welche die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, traumatisierte und ihnen oft das Bewusstsein raubte.
»Sie verlieren die Fähigkeit zum Lachen«, verkündete Lampon düster. »Das kann bleibend sein. Wenn jemand besonders schwermütig ist, mit einer freudlosen Geisteshaltung, dann sagen wir, er müsse durch das Orakel des Trophonios so geworden sein.«
Während wir einen Tag lang über Land ritten, war das unser erster Hinweis darauf, wie schlimm Lebadaia wirklich war.
XLVIII
Der Fluss Herkyna rauschte lärmend vom Berg Helike in eine steile Schlucht hinunter. Bei Hochwasser musste er eisig sein und voller Geröll von den einsamen, fast senkrecht aufragenden Felswänden. Zudem sprudelten in der Gegend auch viele Quellen.
Lebadaia lag hauptsächlich auf der linken Seite des Flusses. Für eine Stadt am Arsch der Welt wirkte sie anständig und recht wohlhabend. Vielleicht irrten sich die attischen Griechen. Von der legendären böotischen Grobschlächtigkeit war auf der Agora wenig zu sehen, und die Kaufleute schienen ihren Geschäften auf ganz normale Weise nachzugehen. Die Leute knurrten nur, wenn wir sie nach dem Weg fragten, aber das machen Einheimische überall. Es hätte mich mehr beunruhigt, wenn sie stehen geblieben und hilfreich gewesen wären. Selbst ohne örtliche Unterstützung fanden wir ein kleines Gästehaus. Dann begann ich mich nach Statianus umzuhören, konnte aber nichts in Erfahrung bringen.
Beim Abendessen in einer Imbissbude mit wenigen Gästen fanden wir eine Kellnerin, die bereit war, uns Auskunft über das Orakel zu geben. Dazu musste mehrfach der Mund gespitzt und die Luft eingesogen werden. Sie wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und erzählte uns düster, dass eine Menge Rituale dazugehörten, die größtenteils im Dunkeln stattfanden und alle dazu gedacht waren, den Bewerber in einen Zustand des Grauens zu versetzen.
Zuerst musste er drei Tage in einem speziellen Haus wohnen, sich nur mit kaltem Wasser waschen und Opfer darbringen. Dann holten ihn mitten in der Nacht zwei Jungs ab, führten ihn zum mondbeschienenen Fluss, wuschen ihn mit eiskaltem Wasser, salbten ihn, ließen ihn verschiedene Kulthandlungen vornehmen, steckten ihn in ein seltsames, mit Bändern umwundenes Gewand und schwere Stiefel und reichten ihn dann an die Priester zu
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