Delphi sehen und sterben
seiner gruseligen Einweihung weiter. Er musste das Wasser des Vergessens trinken, um alles bisher Gedachte aus seinem Gedächtnis zu löschen. Dann stieg er über eine wacklige Leiter in eine zu diesem Zweck angelegte unterirdische Kammer, in der er allein gelassen wurde. Mit zwei Honigkuchen in den Händen musste er in pechschwarzer Dunkelheit seinen Körper mit den Beinen voran in einen schmalen Spalt schieben, wo ihn – laut der Kellnerin – übernatürliche Kräfte hineinsaugen, die Wahrheit auf furchteinflößende Weise enthüllen und ihn dann als zerrüttetes Wrack wieder ausspucken würden. Priester ließen ihn das Wasser des Erinnerns trinken, wonach er sich erinnern und für die Nachwelt berichten würde, was er erfahren hatte – falls er das Bewusstsein wiedererlangte. Seine Freunde und Familienangehörigen mussten ihn einsammeln und hoffen, dass er das Erlebnis überlebte. Nicht jedem gelang das.
Schaudernd erfuhren wir dann auch noch von einem Mann, der das Ritual nicht ganz vollzogen hatte und dafür mit dem Tode bestraft wurde. Vielleicht hatte er nur nach Schätzen suchen wollen. Er verschwand in jener Nacht und tauchte aus dem heiligen Spalt nicht wieder auf. Seine Leiche wurde Tage später gefunden, in einiger Entfernung von dem Orakel.
Das war eine der Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass sich niemand gegen die Prozedur auflehnte. Über alle guten, magischen Heiligtümer gibt es grausige Geschichten, um Frevler und Plünderer abzuschrecken. Die Einzelheiten dessen, was mit aufrichtigen Bewerbern dieses Schreins geschah, waren widerwärtig genug.
»Man muss schon sehr verzweifelt sein«, bemerkte Helena. Unsere Kellnerin, die mit Trophonios groß geworden war, stimmte zu – aber ihr Mitgefühl war flüchtig, und sie eilte davon, um uns eine große Schüssel Honig zu bringen, in die wir Gebäck eintauchen konnten. Sie war nie bei dem Orakel gewesen und kannte keinen Einheimischen, der an dem Ritual teilgenommen hatte. Die Sache war eindeutig eine Touristenfalle.
Eine Weile saßen wir schweigend da. Wir kannten einen Mann, der für diese Sache verzweifelt genug war. Wir waren entsetzt, dass sich Tullius Statianus Ritualen unterziehen könnte, die dazu gedacht waren, einen zerbrechlichen Geist mit Qualen zu überwältigen. Sich diesem Schrecken allein auszusetzen, war furchtbar. Er hatte keine treuergebenen Freunde oder Familienangehörige, die draußen vor dem Schrein auf ihn warteten. Selbst wenn wir daran geglaubt hätten, dass Trophonios die Wahrheit enthüllen würde, könnte das, was Statianus in der heiligen Kammer zu hören bekam, unerträglich sein. Doch ich zumindest glaubte, dass solche Orakel alle mit Schmu arbeiteten.
Weder Helena noch ich schliefen viel in dieser Nacht.
Am nächsten Morgen gingen wir gleich über den Fluss und suchten nach dem Orakel. Da Flusswasser während des Rituals gebraucht wurde, wussten wir, dass die Stätte nicht weit entfernt sein konnte. Am Flussufer des Herkyna gab es mehrere Schreine. In einem am Hang gelegenen Hain stand ein kleiner Tempel des Trophonios, eines einheimischen Königs und minderen Gottheit. Das Orakel direkt hinter dem Hain bestand aus einem beträchtlichen künstlich aufgeschütteten Erdhügel. Er stützte eine runde, trommelförmige Plattform aus weißem Marmor etwa von der Größe einer durchschnittlichen Tenne und ungefähr drei Fuß hoch. Auf der Plattform befanden sich bronzene, mit Ketten verbundene Stäbe sowie zwei Falltüren. Durch diese mussten die unglücklichen Suchenden zu ihrem Martyrium hinabsteigen.
Genau davor fürchtete ich mich. Im Verlauf meiner Arbeit war ich gezwungen, in mehrere grausige Gruben und Brunnen abzusteigen. Der bloße Gedanke daran rief bei mir Platzangst hervor. Ich konnte es tun, wenn ich wusste, dass ich jemanden retten musste, hatte dann aber gern Unterstützung von einer Gruppe starker Männer, denen ich traute. Schlechte Erinnerungen schlichen sich ein. Helena legte ihre langen Finger um meine geballten Fäuste. Schweißtropfen rannen mir über den Rücken; mit dem Wetter hatte das nichts zu tun. Hier stand ich nun erneut vor einem pechschwarzen Loch, in das man mich früher oder später schicken würde, das war mir klar.
Bevor es dazu kam, fragten wir einen Priester nach Statianus. Der Priester versuchte es mit der üblichen ausweichenden Antwort und berief sich auf Vertraulichkeit. Ich berief mich auf den Kaiser und drohte, das Heiligtum schließen zu lassen. Er nahm Vernunft an.
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