Delphi sehen und sterben
Kennst du Phineus?«
»Nein, der war’s nicht. Ich kenne Phineus.« Jeder kannte Phineus. Er kannte jeden – und auch an jedem Ort. Wenn es in Lebadaia etwas Interessantes gab, hätte Phineus es auf der Liste seiner Sehenswürdigkeiten aufgeführt. »Ich nahm an«, jaulte der Kellner in flehendem Ton, »dass es Polystratus war.«
Damit fiel dieser Name jetzt schon zum zweiten Mal. Helena Justina hob die Augenbrauen. Ich richtete mich auf und sagte zu ihr: »Stimmt. Dieser ›Vermittler‹ von Sieben-Stätten-Reisen. Der Mann, den du in Rom nicht leiden konntest. Der Mann, den Phineus angeblich losgeschickt hat, um Statianus zu überreden, sich der Gruppe wieder anzuschließen.«
»Glauben wir also, dass Statianus nach Korinth zurückgekehrt ist, Marcus?«
»Nein, glauben wir nicht. Warum hätte er in dem Fall sein Gepäck zurücklassen sollen?«
»Er war sehr erregt«, murmelte der Kellner, inzwischen besorgt, dass er sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. »Andere Gäste haben ihn in jener Nacht in seinem Zimmer herumlaufen hören, und am Morgen war er einfach verschwunden.«
»Aber nichts deutet darauf hin, dass er tatsächlich nach Lebadaia gegangen ist.«
»Nur die Tatsache«, gestand der Kellner nervös, »dass er mich nach dem Weg gefragt hat.«
Ich packte ihn an den Schultern seiner schmierigen grauen Tunika. »Was wollte er da? Er muss einen Grund gehabt haben. Ich seh’s deinem ausweichenden Blick an, dass du weißt, was es ist!«
»Ich vermute«, quiekte der Kellner ängstlich, »er wollte das Orakel befragen.«
XLVII
Als wir auf die Karte schauten, die Helena mitgebracht hatte, erkannten wir, warum selbst die Kellner im eleganten Delphi Lebadaia verächtlich machten. Es lag auf der Hauptstrecke von Athen nach Delphi, am Prozessionsweg, der jedes Jahr von tanzenden Mädchen benutzt wurde, die sich den Winterritualen des Dionysos hingaben. Aber Lebadaia, ein Ort in der Nähe des Kopaissees, lag in Böotien. Ich hatte genügend griechische Komödien gelesen. Ich wusste, dass Böotien für die fremdenfeindlichen Griechen der Arsch der Welt war. Der Bezirk war unzivilisiert. Böotier wurden immer als Grobiane und Blödmänner dargestellt.
»Tja, Liebling«, murmelte Helena herzlos, »da passt du doch bestens hin, nicht wahr?«
Ich beachtete sie nicht. Hitzig wies ich darauf hin, dass Lebadaia Meilen entfernt lag. Nun ja, zwanzig Meilen in Apollons Vogelfluglinie – zu Fuß allerdings viel mehr, weil ein oder zwei verdammt hohe Berge dazwischenlagen. Auf einem davon hatten die zornigen Mänaden König Pentheus in bacchantischer Wut in Stücke gerissen – genau der blutgetränkte Fleck, an dem Privatermittler gerne herumlungern und sich durch Geschichte in Angst und Schrecken versetzen.
»Ich will da nicht hin.«
»Dann gehe ich stattdessen, Marcus. Die Straße führt zwischen den Bergen hindurch, glaube ich. Das sollte nicht schwierig sein. Wir müssen uns vergewissern, wo Statianus ist. Schau mal hier auf die Karte …« Ihre Straßenkarte wies Mansios und andere nützliche Einrichtungen auf, dargestellt als kleine Häuschen. Sie bestätigte auch unsere Befürchtungen: »Lebadaia hat ein Orakel.«
Ich war fest entschlossen, nach Korinth zurückzukehren und Aquillius Macer anzuweisen, einen Suchtrupp loszuschicken und den prophezeiungsversessenen Bräutigam einzusammeln. Nur die Erwähnung von Polystratus machte mir Sorgen. Phineus hatte gesagt, er schicke einen seiner Leute los, um Statianus zu finden, und das hatte er anscheinend getan. Mit dem Ergebnis war ich sehr unglücklich. Nach der Aussage des Kellners schien Polystratus Statianus ermutigt zu haben, auf eine neue Suche nach göttlicher Wahrheit zu gehen – eine verrückte Suche, würde ich sagen –, statt ihn in den Schoß der Gruppe zurückzubringen.
Interessant, dass der Kellner, der ihm nie begegnet war, trotzdem von Polystratus gehört hatte. Ich hatte angenommen, er würde seine »Vermittlungen« vom Büro in Rom aus durchführen und dann keine Verbindung mehr mit den Reisenden haben, bis sie nach Italien zurückkehrten und er ihre wütenden Beschwerden über die Tour zu den Akten legen konnte. Woher wusste dann ein Kellner in einer miesen Spelunke – wenn auch einer, die Phineus als regelmäßige Zwischenstation für seine Kunden benutzte – überhaupt von Polystratus? Welchen Ruf besaß er in Griechenland? Ich hatte keine Zeit, dem nachzugehen.
Beunruhigt überlegte ich, welche Anweisungen er wirklich
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