Delphi sehen und sterben
verbieten.«
»Empfinden das viele Leute auch so?« Falls seine Einstellung unter den Wettkämpfern und männlichen Zuschauern verbreitet war, konnte es weiblichen Besuchern das Leben sehr schwer machen.
»Wir sollten zu den alten Bräuchen zurückkehren – Frauen wurden vom Typaionfelsen hinabgestoßen.«
»Bisschen drastisch?«
»Nicht drastisch genug.«
»Und jetzt?«
»Zu den Wettkämpfen ist ihnen der Zutritt verwehrt. Aber die dämlichen Huren treiben sich sonst überall rum. Wenn ich den Drecksack erwische, der eine hier reingeschmuggelt hat, breche ich ihm sämtliche Knochen.« Das meinte er ernst.
Und was die Frau betraf, wenn dieser Tyrann sie in seiner kostbaren Palästra erwischte, würde er dann so weit gehen, sie zu töten? Wenn ja, würde er bestimmt damit angeben.
»Sehe ich das richtig, dass Ihre Palästra auch über die normalen Öffnungszeiten hinaus zugänglich ist?«
»Wir schließen nie ab. Der Pförtner macht Feierabend, aber wir lassen ein paar Lampen brennen, falls Wettkämpfer unbedingt noch mal trainieren wollen.«
»Warum sollte das in diesem Jahr jemand tun wollen?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Falco?«
»Keine Spiele, keine Wettkämpfe. Keine Wettkämpfe, kein Bedarf an spätnächtlichem Training. Die Sportbegeisterten kommen nicht vor dem nächsten Jahr. Ich wette, dass hier kaum was los ist. Jeder könnte sein Mädchen reinlotsen und auf ein wenig ungestörten Spaß hoffen.«
Der Oberaufseher blickte finster. Sein gutes Auge tränte. »Hierher kommen nur passionierte Athleten. Sie trainieren die ganze Zeit.«
»Sie können nicht alles haben. Wenn Athleten hier trainiert haben, will ich wissen, wer sie waren, und werde sie verhören …« Der Oberaufseher würde nichts preisgeben. Ich nahm an, dass sie heute Abend nicht da sein würden, also beließ ich es dabei. »Hatte die Frau Ihre Mitglieder belästigt, ihnen schöne Augen gemacht?«
»Das würde ich ihr nicht geraten haben! Meine Mitglieder haben nur eines im Kopf.«
»Ach wirklich?«
»Sie haben ja nicht die geringste Ahnung. Hingabe. Sie treten vor die Statue des Zeus Horkios, um zu schwören, dass sie zehn Monate trainiert haben. Das ist erst der Anfang. Die Kampfrichter müssen bestätigen, dass die zugelassenen Wettkämpfer einen ganzen Monat lang in Elis oder hier unter olympischer Aufsicht trainiert haben. Sie werden von Trainern und Ärzten in Form gebracht, haben Essens- und Trainingsregeln, die für jede Minute des Tages festgelegt sind. Zum Hades, selbst ihr Schlaf ist reglementiert.«
Erneut darauf hinzuweisen, dass wir kein olympisches Jahr hatten, konnte ich mir sparen, und daher ging ich auf ihn ein. »Diese Jungs wollen also nicht, dass irgendein Weibsbild ihnen den Kopf verdreht?«
Der Oberaufseher bedachte mich noch immer mit dem »Blick, der töten kann«, den er für den Beginn seiner Kämpfe entwickelt hatte, wenn die Männer herumtänzeln und ihre Gegner durch schieren Terror zum Aufgeben bringen wollen. »Lassen Sie mich Ihnen eines sagen – die binden sich ein Stück Band um den Pimmel, und selbst wenn sie noch die Kraft zum Vögeln hätten, kriegen sie ihren Schwanz nicht hoch!«
Ich zuckte zusammen. Jeder, der je ein römisches Gymnasium betreten hat, hatte diese Geschichte gehört. Ich war noch niemandem begegnet, der es tatsächlich in Aktion gesehen hatte. Trotzdem kannte ich den Spruch: »›Den Hund an die Leine legen‹?«
»Genau!« Der Oberaufseher war von den vielen Boxhieben blöde geworden. Er hatte so viel Matsch im Hirn, dass er sich nur auf einen Gedanken konzentrieren konnte. »Das dreiste Flittchen muss sich mit einem Liebhaber getroffen haben, aber er gehörte nicht zu meinen Mitgliedern. Irgendein verdammter Außenseiter hat sich zu später Stunde mit ihr reingeschlichen, dann hat sie ihm schöngetan, und er hat ihr eins übergezogen …«
»Mehrere, wie ich hörte. Könnte ich das Gewicht sehen, mit dem sie ermordet wurde?«
»Ist nicht mehr da.« Ich glaubte ihm nicht. Ich hätte wetten können, dass er es sich unter den Nagel gerissen hatte und sich daran weidete. Doch er war zu groß, um sich mit ihm anzulegen. »Sie hat die Prügel verdient«, meinte er.
Helena Justina würde einwenden, dass keine Frau einen Mord »verdiente«. Bevor ich nicht wusste, wie Valeria hierhergelockt worden war, hielt ich mich mit einem Urteil zurück. Wenn sie sich regelrecht angeboten hatte, war sie einfach dumm. »Dann erzählen Sie mir, was danach geschah. Hat sich nicht
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