Delphi sehen und sterben
den Tempel der Aphrodite Bescheid wusste, überraschte es mich nicht, eine Frau allein herumtrödeln zu sehen. Sie schien mittleren Alters zu sein und wirkte durchaus ehrbar – also nahm ich an, dass sie aus dem Tempel stammte und eine der hartarbeitenden Prostituierten war. Ich war zu alt und viel zu erfahren, um vollbusige Fünfzehnjährige zu erwarten.
Ich schenkte ihr ein höfliches Lächeln und sagte auf Griechisch guten Morgen. Sie machte nicht viel her; nun ja, zumindest nach meinen Maßstäben. Das war nicht ungewöhnlich in ihrem Gewerbe. Sie trug einen klassischen Chiton mit Überschlag, in Weiß, und hatte ihr ergrauendes Haar mit einem Kopfband hochgebunden. Mit einer Doppelflöte in der Hand hätte sie von einer Vase herabgestiegen sein können – vor fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte einen Kugelbauch, schwabbelige Arme und leere Augen.
Mit einem träumerischen Rühr-mich-nicht-an-Lächeln blickte sie hinaus auf den Golf. Ich hatte keinen Bedarf und kein Verlangen nach ihren Diensten. Trotzdem machte es Spaß, sich vorzustellen, welche Kniffe dieses abgehalfterte Freudenmädchen bei den hartgesottenen Seeleuten und Händlern anwenden würde, die sich die Mühe machten, hier heraufzukommen. Ehrlich gesagt, sie sah aus, als triebe sie sich in Gedanken mit den Nymphen herum.
»Entschuldigen Sie, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie etwas frage?« Keine Antwort; ja, ihr versteinertes Schweigen deutete darauf hin, dass sie mich für einen Versager mit einem
sehr
alten Anmachspruch hielt. »Mein Name ist Falco, Didius Falco.« Das hätte jede Bordsteinschwalbe beruhigen sollen. Freier geben keine persönlichen Einzelheiten preis, es sei denn, sie sind örtliche Stadträte, die verehrte, halb im Ruhestand lebende Prostituierte schon seit Jahrzehnten auf regelmäßiger Basis besuchen.
Mein freundliches Verhalten stieß auf Widerstand. Ich verspürte leichten Zweifel und fragte mich sogar, ob diese Frau nicht selbst die sogenannte Wasserverkäuferin war. Sie trug zwar keinen Hut, und ich konnte auch keine entsprechende Ausrüstung entdecken, aber nicht weit entfernt stand ein magerer Esel, der auf Futtersuche an dem nackten Geröll knabberte. Er blickte mich mutlos an.
»Wenn das hier ein Mythos wäre«, meinte ich, zu der Nutte gewandt, »dann wären Sie eine Sphinx, die quälende Rätsel aufgibt – und ich säße in der Klemme. Ich verlasse mich auf meine Frau, Kodes zu knacken …« Mein Charme versagte. »Hören Sie, ich möchte nur eines: Wissen Sie etwas über eine ältere Frau, die Reisenden auf dem Anstieg zur Akropolis manchmal Wasser verkauft? Ich möchte nur wissen, ob sie sich noch in der Umgebung aufhält.«
Das leicht bekloppt wirkende Frauenzimmer drehte den Kopf und musterte mich, als hätte es noch nie einen Mann gesehen. In Anbetracht ihres vermuteten Berufs konnte das nicht stimmen. Erstaunlicherweise beantwortete sie die Frage. Ihre Stimme hatte etwas Unnahbares, aber sie sprach verständlich. »Was wollen Sie von ihr?«
»Ich muss sie nach etwas fragen, das vor drei Jahren in Olympia passiert ist.«
Sie starrte mich verstörter an denn je. »Sie ist von hier fortgegangen.«
»Vielen Dank.« Ich steckte meine Trinkflasche in den Gürtel und war bereit, mit dem Abstieg zu beginnen.
»Ich heiße Philomela«, verkündete die Frau plötzlich.
»Nachtigall! Ein gutes Pseudonym für eine Dame des horizontalen Gewerbes.« Musste wohl ein Verweis auf ihr überzeugendes Quietschen sein, wenn sie Orgasmen vortäuschte.
Sie blickte verwirrt, machte mir aber das übliche Angebot: »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein, vielen Dank. Beim Reisen ist der Liebesakt mit Schwierigkeiten verbunden, aber meine Frau und ich haben gestern die Verluste wettgemacht. Tut mir leid.«
Wieder wurde ich mit einem seltsamen Blick bedacht. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte die sogenannte Philomela. Dann ging ihr auf, was ich gemeint hatte – und auch ich erkannte meinen Irrtum. O je! Sie war keine Prostituierte.
Ich nickte ihr zackig zu und machte auf dem Absatz kehrt. Bevor es für uns beide zu peinlich wurde, trat ich hastig den Rückweg nach Korinth an.
XXXIV
Der Abstieg über den hochaufragenden Bergfelsen war noch anstrengender als der Aufstieg. Andere, unangenehmere Beinmuskeln wurden gedehnt, und man musste ständig darauf achten, nicht zu viel Schwung zu bekommen und zu stürzen. Stolpernd und schlitternd, stemmte ich mich gegen die Schwerkraft.
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