Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder, und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.
Auf den Gängen selbst und besonders auf den Treppen standen eine Menge Leute, die hierher kamen, einige, weil ihnen ihr Zimmer zu leer und zu einsam, andere, weil sie zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute aus allen Klassen da, vom Arbeiter in der Barchentweste bis zu dem ruinierten Verschwender in seinem tuchenen Schlafrock mit den zerrissenen Ellenbogen. Aber alle hatten dieselbe Art sich zu benehmen, eine gewisse, leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundenhaftes Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt. Doch jeder, der Lust hat, kann sogleich Einsicht nehmen, wenn er einen Fuß in den nächsten besten Schuldturm setzt und die nächste beste Gruppe, die er erblickt, mit ebensoviel Interesse anschaut, wie Herr Pickwick es tat.
»Sam«, sagte Herr Pickwick, sich an das eiserne Geländer oben an der Treppe lehnend, »es scheint mir, als wenn die Einsperrung wegen Schulden kaum eine Strafe genannt werden könnte.«
»Meinen Sie das wirklich, Sir?« fragte Herr Weller.
»Du siehst, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien«, fuhr Herr Pickwick fort. »Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.«
»Das ist’s ja, Sir«, erwiderte Sam. »Die machen sich freilich nicht viel daraus, sondern haben alle Tage blauen Montag, saufen den ganzen Tag Porter und kegeln: aber es gibt auch noch andere, die kein Bier trinken und nicht Kegel schieben können, die gern bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und die ganz traurig und kleinmütig werden, wenn man sie einsperrt. Ich will Ihnen sagen, wie die Sachlage ist, Sir: denen, die den ganzen Tag in den Wirtshäusern herumliegen, schadet es nichts, denen aber, die immer arbeiten, wenn sie Gelegenheit haben, schadet es vielzuviel. Es ist gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nicht gerade halb Rum und halb Wasser war, es ist gar zu ungleich, und da liegt der Hase im Pfeffer.«
»Du hast recht, Sam«, sagte Herr Pickwick nach einigen Augenblicken des Nachdenkens, »du hast ganz recht.«
»Vielleicht gibt es dann und wann auch einige ehrliche Leute, denen es gefällt«, bemerkte Herr Weller gedankenvoll: »aber ich habe doch von keinem gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.«
»Wer war es denn?« fragte Herr Pickwick.
»Eben das ist die Sache, die kein Mensch jemals erfahren hat«, erwiderte Sam.
»Was hat er denn getan?«
»Was manche viel berühmtere Leute ihrer Zeit auch getan haben, Sir; er hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nicht ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen gewußt.«
»Das heißt, er hat Schulden gemacht?« fragte Herr Pickwick.
»Eben das, Sir«, erwiderte Sam; »und so kam er endlich im Verlauf der Zeit hierher. Es war nicht viel – Pfändung wegen neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf Pfund Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln ins Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn das schmierige Gesicht wie der braune Rock hatten ganz dieselbe Farbe am Ende dieser Zeit wie im Anfang. Er war ein stilles, harmloses, kleines Männchen, das sich immer etwas zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis endlich die Schließer sich ganz in ihn vernarrten und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz allein mit einem alten Freunde, der gerade die Schlüssel hatte: da fing er auf einmal an und sagte: ›Bill, ich habe den Markt draußen schon siebzehn Jahre nicht mehr gesehen‹, (dazumal war gerade der Fleetmarkt). – ›Ich weiß wohl‹, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ›Ich möchte ihn gar zu gern auf eine Minute wiedersehen, Bill‹, fuhr der Kleine fort. – ›Glaub’s wohl‹, sagte der
Weitere Kostenlose Bücher