Dem eigenen Leben auf der Spur
einfach drauflos, über den Weg, dass diese letzte Etappe vor Salamanca für mich problemlos zu bewältigen sei, und wo ich denn wohnen würde. Zum Abschied droht er damit, dass er mich dort vielleicht am Abend besucht und wir etwas gemeinsam trinken könnten.
Ich würde ihn allerdings lieber erwürgen, als jemals wieder auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Denn ich stehe vor einer Klippe, über die ich nicht hinwegkomme. Eine Passage von höchstens 100 Metern, aber mit so hohen Steinen, dass ich sie nicht befahren kann. Rechts neben mir verläuft in einiger Entfernung die viel befahrene Nationalstraße, und links komme ich den steilen Hang nicht hinauf.
Eine halbe Stunde turne ich herum, dann habe ich mich damit abgefunden, die letzten zwölf Kilometer doch auf der Straße zubringen zu müssen. Und das wegen eines so kleinen Hindernisses.
Hilfe, wenn ich es am wenigsten erwarte
Zwei Bauern haben auf ihren Traktoren mein Treiben aus der Ferne beobachtet, jetzt kommen sie mir hinterher. Mit der üblichen Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen hier Pilgern helfen, wuchten sie mich über die Steine, bevor sie vergnügt mit ihren Monstertreckern wieder zurück auf ihr Feld fahren.
Flaschenpost an historischer Stätte
Ich bin in Salamanca, im Herzen Kastiliens, von vielen als eine der schönsten, wenn nicht sogar die schönste Stadt Spaniens bezeichnet. Die Menschen scheinen hier jünger zu sein, die Biergläser etwas größer und die Bars alternativer. 12 000 Studenten sind hier zu Hause und zahllose junge Menschen aus aller Herren Länder, die Spanisch lernen wollen.
Ich erhole mich in einer Bar bei einem Bier, als plötzlich eine Studentin »El Rey« ruft, woraufhin sich der ganze Laden schlagartig leert, um König Juan Carlos zuzuwinken, der offensichtlich in der Stadt zu Gast ist. Doch wir bekommen ihn gar nicht zu Gesicht, er nimmt eine Parallelstraße.
»Jan, du alter Seebär!«, entfährt es mir kurze Zeit darauf laut, während ich die Menschen um mich herum und vor allem auch die Studentinnen betrachte. Die Folge einer Entwicklung, die ich selbst nicht ohne Sorge beobachte: Bei meinen einsamen Wanderungen habe ich vor einiger Zeit begonnen, besonders lebhafte Gedanken laut auszusprechen. In einer voll besetzten Bar, in der ich allein an einem Tisch sitze, muss das einigermaßen seltsam wirken. Ob der Rollstuhl den Eindruck relativiert?
Unwillkürlich habe ich an den Frankfurter Freund Jan denken müssen, einen Freund, dessen Herz so groß ist wie das Meer. Als 16-Jähriger heuerte er auf einem Schiff an und bereiste fünfzehn Jahre lang die Ozeane. Heute versammelt er die Menschen, denen seine ganze Zuneigung gilt, in seinem Weingeschäft um sich. Immer wenn ich bei ihm bin, meine ich die unendliche Sehnsucht nach Weite zu spüren, wie sie vielleicht nur der Seefahrer kennt.
Eines Tages hatte er uns eine Geschichte erzählt, die sich hier abgespielt haben muss. »Ich war mit ein paar Seemannskollegen in Salamanca im Urlaub. Eine junge Spanierin fiel uns auf, aber keiner von uns traute sich, sie anzusprechen. Ich sprach lediglich zwei Worte Spanisch und war mit meinen jungen Jahren auch etwas schüchtern. Aber die junge Frau ließ uns keine Ruhe. Schließlich hatten wir eine Wette mit hohem Einsatz laufen, also ging ich nach ein paar weiteren Gläsern zu ihr, stellte mich vor sie und fragte: >Si o no?<« Ohrfeigen, so erzählte Jan lachend, seien die Antwort gewesen, und zwar heftige wie selten in seinem Leben. In seiner Gruppe war er aber nun der absolute Held. Umso mehr, als sie einige Zeit später zu ihm kam und flüsterte: »Si!«
In der Herberge fragt mich der Hausvater: »Kennst du diese Frau?«, wobei er mir mit einem europäischen Reisepass vor der Nase herumwedelt. Ich mustere das holländische Dokument, und ich erkenne den Vornamen der Pilgerin wieder. Seit gut einer Woche läuft sie offenbar vor mir her und hinterlässt in den Gästebüchern der Herbergen lustige Eintragungen mit Zeichnungen. Fehlt es ihr auch an Austausch, genau wie mir, und deshalb studiert sie alles Lesbare in ihrer Unterkunft und setzt selbst Nachrichten als geheime Flaschenpost ab?
Ich habe schon mehrere Hospitaleros über sie sprechen hören, zuletzt Peter, den Schweizer Banker, der in Fuenterroble die Herberge betreut. Und mit der französischen Pilgerin, die ich vor einer Woche in der Turnhalle in Galisteo getroffen habe, war sie spontan einige Tage nach Fatima in Portugal
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