Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dem Himmel entgegen

Dem Himmel entgegen

Titel: Dem Himmel entgegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
Vom Netzwerk:
er die Symptome, die Marion schon lange hatte, die er aber so richtig nie wahrgenommen hatte. Der übermäßige Durst, der erhöhte Harndrang, der Gewichtsverlust, Gereiztheit – all das waren Anzeichen, die auf Typ-1-Diabetes, die seltenste und gefährlichste Form dieser Krankheit, hingewiesen hatten.
    Er fühlte sich schuldig. Heimtückische, fortwährende Selbstvorwürfe, die ihn nicht losließen, nagten an ihm. Er fragte sich, wie er es so weit kommen lassen konnte, wie er ihren immer schlechter werdenden Gesundheitszustand so ignorieren konnte, dass sie erst umfallen und einen fiebrigen Krampfanfall bekommen musste. Er fühlte sich wie der schlechteste, der erbärmlichste Vater auf der ganzen Welt.
    Doch für Schuldgefühle hatte er eigentlich gar keine Zeit. Die Krankheit beeinflusste das ganze Leben. Nichts war mehr einfach. Er konnte Marion nicht einmal einen Snack bereiten, ohne daran zu denken, wie viele Broteinheiten sie zu sich nahm und was das für Auswirkungen auf ihren Zustand haben könnte. Zum ersten Mal seit Marions Geburt hatte Harris Angst vor der Verantwortung für sein Kind.
    Er sah wieder auf seine Tochter, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte und fernsah. Wie süß und unschuldig sie aussah. Und wie dieser Eindruck täuschte. Er schüttelte den Kopf, atmete tief ein und wappnete sich für das, was jetzt kam.
    “Marion? Es ist Zeit, den Test zu machen.”
    Sofort wich der friedliche Ausdruck aus ihrem kleinen Gesicht, sie zog die Knie an den Körper, schlang ihre Arme um die Beine und schrie: “Nein!”
    “Komm schon, Süße. Du weißt, dass wir das tun müssen.”
    “Nein!”
    Harris seufzte auf. Ihm stand schon wieder ein Kampf bevor. Während er sich ihr näherte, verkroch sie sich in der Sofaecke. Wie einer seiner Vogel-Patienten war sie bereit, sich zu verteidigen. Schützend hatte sie die Arme vor den Körper gehoben und sah ihren Vater wild entschlossen an.
    Harris ging ganz langsam und vorsichtig auf sie zu, wobei er ununterbrochen beruhigend auf sie einredete. Dann griff er schnell zu, hielt sie fest. Marion reagierte augenblicklich – sie schrie und tobte und wehrte sich aus Leibeskräften, wie es auch die Tiere in der Klinik taten.
    “Nein! Ich will nicht! Nein, nein, nein!”
    Ihre Schreie hallten im Raum wider und dröhnten in seinem Kopf. Obwohl sie so zart und zerbrechlich wirkte, war sie erstaunlich stark – und raffiniert. Immer, wenn er sie hochheben wollte, streckte sie die Beine von sich, begann zu treten und mit ihren winzigen Fäusten zu boxen, wobei sie vom Sofa rutschte.
    “Was, in Gottes Namen, ist denn hier los?”
    Harris erkannte Maggies Stimme zwischen dem Kreischen und Schreien seiner Tochter. Und auch Marion hatte Maggie gehört. Für einen kurzen Moment hörte sie auf – um dann mit noch mehr Kraft weiterzukämpfen. Er hielt sie noch fester, während sie versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu winden.
    “Oh nein, dass machst du nicht”, sagte er zu ihr und hob sie auf das Sofa zurück.
    “Es hört sich an, als fände hier ein blutiger Kampf statt”, stellte Maggie fest und sah sich um.
    “Das wäre entschieden leichter als das hier”, erwiderte Harris über die Schulter. “Ich muss ihr in den Finger stechen, um den Blutzucker zu messen. Aua, Marion, hör auf, mich zu treten.”
    Maggie gluckste vor Vergnügen und ging auf die beiden zu. “Ich denke, es wäre hilfreich, wenn du ihr zuerst einmal die Schuhe ausziehst.”
    “Wenn du mir hilfst?”
    Maggie streckte die Arme aus und griff, wie sie es von den Vögeln her kannte, mit schlafwandlerischer Sicherheit nach Marions Beinen. Einige Sekunden später hatte sie dem Kind die Schuhe ausgezogen. Sie hielt die Beine immer noch fest. Das schien Marion noch wütender zu machen, und sie versuchte wie wahnsinnig, zu treten und sich aus dem Griff zu winden. Ihr Gesicht verfärbte sich vor Anstrengung rot.
    “Jesus, sie ist stärker als ein Virginiauhu.”
    “Sie beißt auch wie einer. Schnell, pack ihre linke Hand.”
    Maggie hielt Marions Hand. Das Kind kreischte mittlerweile hysterisch.
    “Jetzt muss sie gerade Luft holen. Schnell!”
    Harris wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn, zielte, stach in den Finger und drückte in Bruchteilen von Sekunden den Teststreifen gegen den Blutstropfen, der aus der winzigen Wunde quoll.
    “Geschafft!” triumphierte er.
    Marion schrie noch einmal wütend auf und rollte sich dann – besiegt, erschöpft und weinend – zwischen den Kissen

Weitere Kostenlose Bücher