Dem Himmel entgegen
hinunterbeugte, um sie auf den Arm zu nehmen.
“Sieh da rauf, Süße”, sagte er und zeigte zum Turm. “Kannst du den Adler auf dem Vorsprung sitzen sehen?”
“Ja, ich sehe ihn!” rief Marion und klammerte sich aufgeregt an ihren Vater. “Was macht er da?”
“Er ist bereit, loszufliegen”, antwortete Lijah. “Seine Schwester fliegt schon seit einigen Tagen. Sie stürzt sich immer wieder auf ihn, um ihn zu ärgern. Und er schreit sie an. Er ist wütend und gerade bis zum Sims getaumelt.” Er gluckste vor Lachen. “Ich dachte schon ein paar Mal, der Wind würde ihn einfach mit sich fortreißen.”
Ella trat an Harris’ und Marions Seite und fühlte sich ihnen plötzlich so nah, so verbunden, als sie den jungen Adler beobachteten, der zum ersten Mal seine Flügel ausbreitete.
Der Jungvogel warf seinen Kopf zurück und stieß dabei einen dünnen, schwachen Ruf aus. In den nächsten vier oder fünf Jahren würde er noch nicht das weißen Kopfgefieder, den weißen Schwanz oder den gelben Schnabel entwickeln. Aber er hatte schon die Größe, die stolze Haltung und das aggressive Aussehen eines erwachsenen Tieres.
Der Adler hatte sich langsam bis zur äußersten Ecke der Plattform vorgetastet. Der Ruf des Windes hatte ihn angelockt. Er schlug erneut mit den Flügeln, als wolle er seinen Mut zusammennehmen. Harris hatte Ella erzählt, dass der erste Flug eines Adlers voller Gefahren für Leib und Leben des Tieres steckte. Doch der Instinkt des Tieres trieb es immer weiter. Es war wie ein Ruf, dem der Vogel folgen musste, der ihn dazu zwang, weiterzugehen und seinen Platz im Kreislauf der Natur einzunehmen: zu fliegen, zu jagen, sich auf die Beute zu stürzen, zu erobern, zu brüten, zu nisten. Wenn er überlebte, war seine Belohnung, mit den Göttern zu schweben.
Der junge Adler schlug entschlossen mit den Flügeln und lehnte sich nach vorn. Mit angehaltenem Atem hielt Ella Harris’ Arm fest, als der Adler wankte und fast die Balance zu verlieren und abzustürzen drohte. Aber der Wind fing ihn auf, trug ihn mit sich, und der Vogel stieg in die Lüfte hinauf! Ella fühlte, wie sich die Anspannung in ihr löste, als sie ihn mit seinen geraden dunklen Schwingen über den Weiher gleiten sah. Er schwebte direkt über ihren Köpfen auf das freie Feld zu und begann den Sinkflug. Der erste Flug seines Lebens endete, indem er – statt elegant auf dem Boden zu landen – unbeholfen aufkam, taumelte und stolperte und einen Schlenker machte, bevor er endlich stoppte. Er stand einen Augenblick reglos da und schaute verdutzt umher, als fragte er sich, was er jetzt tun sollte.
“Er wird den Bogen bald raushaben”, sagte Harris und strahlte vor Stolz.
“Mein Herz ist mir beinahe in die Hose gerutscht”, sagte Lijah kopfschüttelnd.
“Ich muss gestehen, dass ich einen Augenblick glaubte, er schafft es nicht”, gestand Ella und atmete tief durch. “Ich dachte, er stürzt einfach ab.”
“Das hätte passieren können”, erwiderte Harris. “Nur die Hälfte aller Adlerjungen überleben das erste Jahr. In dieser Zeit gibt es so viel zu lernen, nicht nur das Fliegen. Nun muss er lernen, wie man jagt, und er hat nur diesen Sommer, um es zu beherrschen. Dann muss er sich allein durchschlagen.”
“Du meinst, er kommt nicht zurück zur Auswilderungsbox?”
“Oh, er wird noch einige Wochen hier bleiben, solange wir noch Futter bringen. Wir übernehmen sozusagen die Rolle der Eltern, damit die Jungen nicht Hunger leiden, während sie lernen, sich selbst zu versorgen. Diese beiden werden noch bei der Auswilderungsbox bleiben, bis, eines Tages …” Er zuckte die Schultern. “Sie kommen dann einfach nicht mehr zurück.”
“Wir sollten wohl alle ein bisschen wie der Adler sein”, sagte Lijah, als wolle er eine Geschichte erzählen. “Wenn die Adlerjungen groß genug sind und das Nest langsam zu klein wird, fliegt die Adlermutter los und jagt sich einen schönen Fisch oder ein sonstiges Tier. Dann stößt sie mit der verführerischen Beute in den Krallen auf das Nest nieder. Ganz nah kommt sie ihren Jungen, damit sie den Leckerbissen gut erkennen können. Die Kleinen schreien und betteln um das Fleisch. Aber die Mutter gibt ihnen das Futter nicht sofort. Nein, das tut sie nicht. Sie ruft nach ihnen, damit sie kommen und es sich holen. Sie will, dass die Kleinen für ihr Futter arbeiten. Wenn sie das nicht machen würde, würden die Jungen faul und verfressen und würden das Nest wohl nie freiwillig verlassen.
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