Dem Himmel entgegen
Der kritische Blick in Maggies Augen entging ihr nicht, und so beeilte sie sich zu erklären: “Marion braucht ihren Vater auch. Sie ist doch erst fünf Jahre alt und liebt ihn abgöttisch. Zwar machen wir Fortschritte, aber sie hat klargemacht, dass ich
nicht
ihre Mutter bin. Es scheint, als habe sie Angst, dass ich dieses besondere und wichtige Band, das sie mit ihrer Mutter verbindet, zerschneiden könne. Und sie nimmt mir übel, dass ich mich jetzt um sie kümmere und all das tue, was früher ihr Vater getan hat. Sie denkt, auch da mische ich mich ein. Also, ich weiß, dass er in der Klinik gebraucht wird, aber zu Hause wird er ebenso gebraucht.”
Maggie hob abwehrend die Hände. “Da halte ich mich raus. Ich würde Ihnen empfehlen, das auch zu tun. Tun Sie Ihr Bestes, doch versuchen Sie nicht, ihn zu ändern. Sie denken, Sie sind dickköpfig? Warten Sie’s ab. Er ist der König der Dickköpfigkeit.” Sie lächelte schief. “Auch wenn er es
konsequent
nennt.”
Die beiden mussten lachen.
“Nun, wir werden sehen”, sagte Ella.
“Mmm-hmm”, erwiderte Maggie und schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht, mit euch beiden kenne ich mich nicht aus. Ich habe noch nie zwei derart sture Böcke wie euch gesehen, die jeden Augenblick drauf und dran sind, aufeinander loszugehen.”
Maggie stand auf und strich sich die Kleidung glatt. Sie richtete sich zu ihrer vollen beeindruckenden Größe auf und blickte Ella nachdenklich an.
“Im Ernst, Ella, seien Sie geduldig mit ihm. Visionäre sind ein besonderer Schlag Menschen. Sie inspirieren uns. Sie fordern uns heraus und bringen uns dazu, an unsere persönlichen Grenzen zu gehen. Aber manchmal sehen sie den Wald vor lauter Bäumen nicht. Dann konzentrieren sie sich voll auf ihre Arbeit und vergessen die alltäglichen Dinge wie essen, Socken anziehen oder sich für einige Momente zu entspannen. Sie fühlen sich verantwortlich und geben alles. Sehen Sie, Harris will ja für Marion da sein. In seinem Kopf, da bin ich mir sicher, denkt er, er würde alles für sie tun, was in seiner Macht steht. Ich weiß, dass er fast verrückt wird, weil er sich die Schuld daran gibt, dass Marion so krank geworden ist. Einerseits kümmert er sich um die Vögel und bemerkt jede kleinste Veränderung, und andererseits übersieht er die offensichtlichen Symptome der Krankheit bei seinem eigenen Kind. Das nagt sehr an ihm. Er wird Ihnen das vielleicht nicht sagen, aber er ist unendlich erleichtert, dass Sie hier sind. Ich bin übrigens auch froh, dass Sie hier sind. Die ganze Zeit habe ich mir Sorgen um ihn und Marion gemacht und versucht, ein Auge auf sie zu haben. Sherry auch. Aber sie wird langsam alt, und ich habe ja meine eigenen Kinder und meinen Mann und muss mich um sie und meinen Haushalt kümmern, wenn ich abends nach Hause komme.”
Ella zögerte, wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. “Ich werde mein Bestes tun.”
Maggie lächelte aufmunternd. “Ich bin sicher, dass Sie das werden.” Dann blickte sie wieder ernst. “Ich denke, was ich die ganze Zeit sagen will, ist … Harris ist ein guter Mann, Ella. Er hat sein ganzes Leben lang anderen geholfen. Zuerst seiner Mutter. Dann seiner Ehefrau. Und nun Marion. Er weiß nicht, wie es ist, sich selbst zur Abwechslung mal umsorgen zu lassen. Er weiß nicht, wie man einen Gang zurückschaltet und das Leben genießt. Noch nie hatte er die Chance dazu.”
Als ob sie sich plötzlich mit der emotionalen Situation überfordert fühlte, winkte sie ab und sagte schnell: “Oh, hören Sie mir nur zu. Ich war seine erste Mitarbeiterin hier und habe ihm gegenüber wohl Besitzansprüche entwickelt.”
“Und Sie wollen, dass ich nachsichtig mit ihm umgehe?”
“Ja, so in etwa. Und ich möchte nicht, dass er verletzt wird.”
“Verletzt? Von mir? Wie sollte ich das jemals tun?”
“Wie gesagt, ich mache mir nur Sorgen.”
“Sie müssen ihn wirklich gern haben, wenn Sie mir das alles erzählen.”
“Das tue ich. Wir alle tun das. Und wir alle lieben auch die kleine Marion. Alle haben schon das ein oder andere Mal auf die Kleine aufgepasst, seit sie geboren wurde. Sie jagt auf dem Gelände herum und spielt auf dem Fußboden, auch wenn sie eigentlich nicht in der Nähe der Vögel sein sollte.” Sie zuckte die Schultern. “Wir haben alles getan, um uns zu kümmern. Und darum geht es doch im Leben, oder?”
Ella atmete ein Mal tief durch und nickte zustimmend. Sie wusstenur zu gut, was es bedeutete, alles Erdenkliche
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