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Dem Himmel entgegen

Dem Himmel entgegen

Titel: Dem Himmel entgegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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von seinem süßen Gesichtsausdruck täuschen. Alle Eulen können sehr angriffslustig sein. Besonders der Virginiauhu. Das sind wirklich brutale Biester. Man muss schon sehr genau wissen, was man tut.” Er gab ihr ein Paar dicke schwarze Handschuhe aus Rohleder, die fast bis zum Ellbogen reichten. Als er den Vogel untersuchte, bemerkte er ihre Angst. “Vergessen Sie nie, dass die Füße und Krallen die effektivsten Waffen eines Greifvogels sind. Tragen Sie immer Handschuhe.”
    Ella fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte, als sie den scheinbar lammfrommen Kauz ansah. Etwas an seiner ruhigen Art brachte sie aus der Fassung. “Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon bereit bin für das hier”, sagte sie und wich zurück. “Was, wenn ich ihn verletze?”
    “Die Gefahr besteht immer, aber wir müssen irgendwo und irgendwann beginnen. Dieser Kauz ist ziemlich schwach und mitgenommen, er wird sich also nicht wehren. Er hatte sich in Stacheldraht verfangen und kämpfte wie wild, um wieder herauszukommen, als ihn jemand fand und befreite. Er hatte Glück, dass die Frau, die ihn brachte, den Draht durchgeschnitten und nicht versucht hat, ihn zu entwirren. Doch trotz allem ist die Struktur des Flügels schwer verletzt worden und der Fuß tief eingerissen. Okay, ich zeige Ihnen nun, was Sie tun müssen”, sagte er und trat dichter an sie heran.
    Ihr Herz pochte so laut, dass sie sich fast sicher war, er würde es hören. Er stand ganz nah bei ihr und hatte die Hände erhoben, um ihre Arme zu umfassen. Sie verharrte gespannt und reglos, als sie seine Finger auf ihrer Haut spürte.
    “Entspannen Sie sich”, sagte er. “Sie zittern ja wie Espenlaub. Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten.”
    Er hat ja keine Ahnung, was für einen Aufruhr der Gefühle er in mir erzeugen kann, indem er mich nur berührt, dachte sie bei sich und versuchte gewaltsam, das Zittern zu unterdrücken. Er konnte ja auch nicht wissen, wie lange es her war, dass sie jemand so berührt hatte. Ihre Haut war wie gänzlich ausgedörrte Erde, wenn die ersten Tropfen Regen fielen – hungrig, gierig, lebendig, aufblühend.
    “Gehen Sie ganz nah heran, damit er nicht entkommen kann”, sagte er, und sie konnte seinen Atem an ihrem Ohr spüren, während er ihre Arme lenkte. “Seien Sie stets bereit zuzugreifen … so … genau, das ist richtig.”
    Sie stand in seiner Armbeuge, spürte den weichen Stoff seines Hemdes an ihrer Wange und nickte.
    “Das Wichtigste ist, langsam und vorsichtig in den Käfig zu greifen, damit er sich nicht zu sehr erschreckt. Wir wollen ja verhindern, dass er allzu sehr mit seinen Flügeln schlägt. Damit könnte man die Schwingen verletzen. Wenn Sie ihn im Griff haben, nehmen Sie die Flügel und drücken sie vorsichtig gegen seinen Körper”, erklärte er und führte ihre Arme. Dann nahm er seine Hände weg, blieb aber in der Nähe stehen. “Sind Sie bereit, es zu versuchen?”
    Als er zur Seite trat, atmete sie tief ein und nickte. Sie spürte die kalte Luft um sich herum, die sie wieder zu Verstand brachte. Ich muss mich konzentrieren, sagte sie sich, als sie in die dunklen Augen des Tieres blickte.
    Sie erinnerte sich an den Tag – es war schon so lange her –, als sie zum ersten Mal einem Kind eine Spritze setzen musste. Ihre Hände hatten damals genau wie heute gezittert, und sie war sich sicher gewesen, dem Kind wehzutun und als Schwester zu versagen. Das alles war natürlich nicht passiert. Die ganze Prozedur war ohne Komplikationen vonstatten gegangen, obwohl sie am Ende mehr gezittert hatte als das Kind. Es half ihr, sich an diesen Tag zu erinnern, und sie beruhigte sich ein bisschen. Sie würde es schon überstehen, sagte sie sich. Sie musste nur an sich glauben.
    Der Kauz starrte sie aufmerksam mit seinen riesigen Augen an, als sie langsam die Käfigtür öffnete. Die verrostete Tür quietschte. Zwar bewegte sich die Eule nicht, aber sie konnte deutlich ihre Nervosität spüren, als sie langsam mit dem Handschuh in ihr Revier eindrang. Vorsichtig, langsam, wisperte sie sich selbst zu, während sie Stück für Stück näher kam. Plötzlich machte der Vogel einen Satz in die äußerste Ecke des Käfigs und flatterte mit seinem gesunden Flügel laut gegen die Plastikwände. Sie blinzelte, erschrocken über die wilden Flügelschläge und griff hastig in den Käfig. Panik wallte in ihr auf, als der Vogel mit seinen Krallen und seinem Schnabel nach ihr schlug und

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