Dem Himmel entgegen
konnte er ihren Zustand so falsch interpretieren, schalt er sich selbst. Er hatte die Signale übersehen. Schon wieder. Seine Hände zitterten, als er das Testset aus dem Badezimmerregal nahm.
Als er in das Wohnzimmer zurückkehrte, war Marion verschwunden.
“Marion?” rief er. Doch er spürte, dass sie fortgerannt war, noch bevor er überhaupt in der Küche und in ihrem Zimmer nach ihr gesucht hatte. Er stieß die Hintertür auf und rannte nach draußen. Panik wallte in ihm auf. “Marion!”
Das kleine Mädchen war nirgends zu entdecken. Er rannte einmal ums Haus und dann quer über den Rasen zur Klinik. Angsterfüllt preschte er durch die Tür, vergaß alle Regeln und rief: “Ella! Ist Marion hier?”
Ella kam aus dem Behandlungszimmer gestürzt. Sie hatte eine Röntgenschürze umgebunden. Ihr Gesicht spiegelte Sorge und Angst wider. “Wie bitte? Ist sie verschwunden?”
“Sie ist plötzlich weggelaufen.”
“Wie lange ist sie schon weg?”
“Einige Minuten.”
Ella atmete auf. “Dann kann sie ja noch nicht weit gekommen sein. Lassen Sie mich nur schnell die Eule in den Käfig zurückbringen, dann helfe ich Ihnen bei der Suche. Sie muss hier irgendwo in der Nähe sein.”
Harris machte auf dem Absatz kehrt und lief zur medizinischen Station. Clarice und Brady waren gerade dabei, die Voliere Nr. 8 zu säubern, während die beiden Fischadler darin sich in die hinterste Ecke gepresst hatten. Aber Marion war nicht da. Als er die Station verließ, sah er Ella, die gerade von der Klinik zu ihm herüberlief.
“Wo haben Sie bis jetzt nach ihr gesucht?” fragte Ella.
“Im Haus, in der Klinik, auf der medizinischen Station.”
“Was ist mit dem Gehege, in dem die Dauergäste leben? Sie liebt doch die Krähen.”
“Die Krähen”, murmelte er, und ein Licht ging ihm auf.
Zusammen rannten sie zu den Käfigen der Dauerbewohner des Centers. Er war sich Ellas Hilfe und ihrer Unterstützung sehr wohl bewusst, als sie neben ihm herlief. Als er um die Büsche bog, fiel Harris ein Stein vom Herzen. Beim Anblick des kleinen Mädchens, das neben Lijah in der Voliere der Krähen stand, spürte er einen Kloß der Erleichterung im Hals.
“Gott sei Dank”, sagte Ella atemlos, als sie zu ihm aufschloss.
Harris betrachtete Marion, die ganz gelöst und ruhig zu sein schien und sich gerade nach vorne beugte, um die kleinere der beiden Krähen besser sehen zu können. All ihre Wut und die Hinweise darauf, dass ihr Blutzuckerspiegel zu niedrig war, waren verschwunden. Es war offensichtlich, dass sie völlig vertieft war in das, was Lijah ihr gerade erzählte. Harris sah auf Lijahs Gesicht ein freundliches Lächeln, und es entging ihm nicht, dass der alte Mann die kurze Unterhaltung mit Marion sichtlich genoss.
“Sie macht auf mich einen zufriedenen Eindruck”, sagte Ella. “Tatsächlich scheint sie mit Lijah ziemlich viel Spaß zu haben.”
Er strich sich sein Haar aus dem Gesicht und wartete darauf, dass seine Atemfrequenz sich seiner Herzfrequenz annäherte. “Solange sie nicht mit mir zusammen ist, geht es ihr anscheinend richtig gut.”
“Seien Sie nicht so hart zu sich selbst. Jeder liebt Lijah. Er hat dieses besondere Etwas an sich.”
“Aber ich bin ihr Vater. Stecken Sie mich mit ihr in diese Voliere, und sie bekommt ganz sicher einen Wutanfall.”
Sie lächelte schief. “Was ist denn heute Morgen passiert?”
“Wenn ich das nur wüsste. Gerade spielten wir Chutes and Ladders, und im nächsten Moment trat sie gegen das Spielbrett und sagte mir, sie wolle nicht mehr spielen. Ich dachte, sie hätte einen Zuckerschock.”
“Und, hatte sie?”
“Ich weiß es nicht. Ich holte gerade das Messbesteck, als sie sich aus dem Haus stahl.”
“Also wusste sie, dass Sie sie testen wollten?”
Er schürzte die Lippen und nickte kurz.
“Lassen Sie uns ein Stück gehen.”
Der Frühling hatte offiziell noch nicht begonnen, aber blühende Judasbäume und Kirschblüten, grüne Wiesen, cremefarbene Magnolien und andere zarte Farben erfüllten wie ein sanftes Versprechen die Landschaft.
Sie gingen den Kiesweg hinunter und schlenderten ohne bestimmtes Ziel durch die Gegend. Während sie Schulter an Schulter mit Harris die Wege entlanglief, wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass sie nicht länger Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern vielmehr Kollegen waren, vielleicht sogar eines Tages Freunde. Sie hatten zu viel gemeinsam durchgestanden, waren sich schon zu nah gekommen und hatten viel mehr als ein
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