Dem Killer auf der Fährte
sich Rita einen Film ansieht, in dem eine Szene beim Psychotherapeuten spielt, regt sie sich auf und protestiert, daß die Zuschauer eine völlig falsche Vorstellung über Therapien bekämen. Wenn der Therapeut nichts sagt, meint sie, das sähe so aus, als würden Therapeuten gar nichts tun, und wenn der Therapeut etwas sagt, findet sie jedes Mal, es sei dummes Zeug. Einmal sind wir zusammen im Kino gewesen und haben einen Film gesehen, in dem ein Therapeut neben seiner Patientin auf der Couch saß. Der Therapeut hatte einen Arm auf die Rücklehne der Couch gelegt, zwar nicht direkt um die Schultern der Frau, aber Rita war trotzdem erbost. Deshalb überraschte es mich nicht, in Joels Praxis nur Stühle und keine Couch zu sehen, obwohl selbst in Ritas eine stand.
Joel setzte sich in einen tiefen, dunkelblauen Sessel und forderte mich mit einer Geste auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Auf dem kleinen Beistelltisch zwischen uns standen eine Keramiklampe und eine Schachtel Kleenex-Tücher. Ich fragte mich, ob wohl einer von uns beiden zu weinen anfangen würde.
»Ich fühle mich zu unbehaglich, um taktvoll zu sein und lange Vorreden zu halten«, sagte ich und reichte ihm die Photokopien der beiden Briefe, die Elaine ihm geschrieben hatte. »Die habe ich in Elaines Computer gefunden. Ich glaube nicht, daß sie sonst noch irgendwelche Kopien davon hatte.«
Man sollte annehmen, daß er diese Briefe inzwischen auswendig kannte, aber er las sie trotzdem beide, und während er das tat, beobachtete ich ihn und fragte mich, warum ich weiterhin, selbst in meinen Selbstgesprächen, als ein »er« von ihm sprach. Sind die Menschen denn das, was sie vorgeben zu sein, oder was sie zu sein gewählt haben? Wenn Joel mir gesagt hätte, er sei die Königin Viktoria, hätte ich ihn vielleicht mit »königlicher Hoheit« angeredet, aber mein Verstand hätte keinen Hofknicks vor ihm gemacht, denn ich wäre mir ja ganz sicher gewesen, daß er in Wirklichkeit nicht die Königin Viktoria ist. Aber so brauchte er sich gar nicht als irgend etwas oder irgendjemand zu erklären, denn diese Person, die da vor mir saß und die Briefe las, war einfach keine Frau, die mir vormachen wollte, sie sei ein Mann. Ich empfand seine Person als ganz eindeutig männlich, jedenfalls linguistisch gesehen. Und doch war er es nicht. Kimi hatte es mir gesagt, und Hunde lügen nie.
Als er die Briefe zu Ende gelesen hatte, sah er mich direkt an und reichte sie mir zurück. Es war schwer, mir vorzustellen, was ich an seiner Stelle getan hätte, aber ich glaube, ich hätte die beiden Briefe sofort zerrissen, ganz egal, ob es nur Kopien waren oder nicht.
»Hauptsächlich bin ich allerdings durch diesen Vorfall bei der Hundeschau draufgekommen«, sagte ich. »Ich weiß, daß Donnas Anschuldigungen auf Einbildung beruht haben, und ich weiß auch, warum es nur diese Erklärung geben kann. Sie haben Kimis Verhalten ebensogut bemerkt wie ich und begriffen, was es bedeutet. Und ich verstehe auch sehr gut, in welcher Klemme Sie sich befunden haben.«
»Tun Sie das?« fragte er, und seine Stimme klang völlig neutral.
»Sie müssen sich manchmal sehr einsam fühlen.«
Er lächelte. »Nicht oft. Wissen Sie, ich bin ja nicht der erste Fall dieser Art.«
»Sagen Sie mir doch bitte eins«, bat ich ihn. »Nicht, daß ich es unbedingt wissen muß, aber ich bin einfach neugierig. Wie hat das alles angefangen?«
Er lachte, und es war ganz und gar kein nervöses Lachen. »Mit einem Schreibfehler der Universitätssekretärin auf meinen Abschlußpapieren.« Er sagte das mit warmer Stimme, als erinnere er sich gern an dieses Ereignis. »Sie hat zwei Buchstaben aus meinem Vornamen weggelassen, das L und das E. Und nachdem es dann so dastand, hat sie wohl angenommen, daß es in meinen persönlichen Daten >männlich< statt >weiblich< heißen müßte.«
Joelle, dachte ich, aber sprach den Namen nicht aus.
»Die Sekretärin war vielleicht ein Sekretär«, schlug ich vor.
»Ja. Das könnte man beinahe annehmen«, lächelte er.
»Sie führen ein glückliches, erfülltes Leben. Sie hätten eine Menge zu verlieren.«
»Eine wunderbare Ehefrau«, antwortete er. Seine Arme lagen locker auf der Sessellehne. Sein Gesichtsausdruck war entspannt. Kein nervöses Zucken.
»Ich mag Kelly sehr gern«, sprach ich weiter. »Ich mag Sie beide. Und wenn es nur um Elaine gehen würde, könnte ich es vielleicht sogar noch verstehen. Aber so ist es ja nicht.«
»Nein. Da war auch noch
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