Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
bringen.
War es Habgier? Das Gesamtvermögen der Familie H. beläuft sich auf fast eine Million Euro.
War es Hass? Befand sich Andreas H. wirklich in einer ausweglosen Situation, wie er es darstellt? Wie viele Jugendliche aber leiden unter ihren Eltern, finden jedoch Möglichkeiten, dies zu verarbeiten oder anderweitig zu bewältigen? Andreas H. sagte dem Gutachter: »Ich habe meine Mutter geliebt.« Seine Schwestern habe er »sehr gemocht«. Welches ist die Lüge – diese Aussage oder die, dass er ausgegrenzt worden sei?
Und warum macht Frederik mit? Erschießt er aus »Freundschaft« die gesamte Familie seines besten Freundes – allein? Nur wenige Tage vor der Urteilsverkündung ermahnt ihn der Vorsitzende Richter: »Es könnte zu Ihrem Vorteil sein, wenn Sie uns nicht verschweigen, was wirklich in dieser Nacht passiert ist.« Frederik B. aber schweigt.
Bereits einen Tag nach der Urteilsverkündung legt der Anwalt von Andreas H. Berufung ein. Er tut kund, noch das schriftliche Urteil abzuwarten, dann werde er auch die Begründung seiner Anfechtung nachreichen. Das Landgericht Ulm wird die Akte zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe weiterleiten.
Die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger von Frederik B. legen keine Revision ein.
Der Fall Mario L.
(Ayla aus Zwickau )
Begegnun g
Im Dezember 2005 findet eine Buchlesung in der Justizvollzugsanstalt Zwickau statt.
Die Zwickauer Justizvollzugsanstalt – im herkömmlichen Sprachgebrauch auch einfach als »Gefängnis« bezeichnet – ist zuständig für »den Vollzug der Untersuchungshaft an männlichen Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen aus den Landgerichtsbezirken Chemnitz und Zwickau«.
Das heißt, hier sitzen Männer ein, deren Prozess noch nicht stattgefunden hat. Untersuchungshaft wird immer dann angeordnet, wenn der »Beschuldigte« sicher verwahrt werden soll und/oder weitere Straftaten zu befürchten sind. Außerdem befinden sich in der JVA Zwickau Gefangene, deren Freiheitsstrafe eine Dauer von zwei Jahren nicht überschreitet.
Die Buchlesung im Jahr 2005 findet vor jugendlichen Straftätern statt. Jugendliche Straftäter, die zu einer Haftstrafe verurteilt werden, haben im Gefängnis Unterricht und können verschiedene Schulabschlüsse ablegen.
Im Rahmen dieses Unterrichts werde ich von einer ehemaligen Lehrerkollegin, Heidi S., die die Gefangenen unterrichtet, zu einer Lesung eingeladen. Ich kenne das Gefängnis bisher nur von außen, und meine Vorstellungen von Strafvollzug, Zellen und Tagesabläufen sind klischeehaft.
Im Vorfeld der Lesung darf ich gemeinsam mit der Lehrerin das Gefängnis besichtigen. Es hat etwas Beängstigendes, wenn man am Eingang, der so genannten Torwache, Ausweis, Handy und andere Utensilien abgeben muss. Der Weg durch die 1899 erbaute Trutzburg ist durch unzählige verschlossene Zwischentüren versperrt und so dauert unsere »Besichtigung« länger als gedacht. Jedes Mal muss Heidi S. zuerst auf- und dann hinter uns wieder zuschließen. Ich verliere die Orientierung in diesem Labyrinth. Aber vielleicht ist das gewollt. Ab und zu kommt uns ein Uniformierter entgegen. Irgendwo in der Mitte des Gebäudes; dort, wo mehrere Gänge aufeinander treffen, befindet sich ein großer Glaskasten, in dem Beamte in Uniform sitzen und alles überwachen.
Eine Durchsage über Lautsprecher ertönt. Es sei dafür zu sorgen, dass die Gefangenen sofort die Gänge verlassen und ihre Zellen aufsuchen. Ich ahne nicht, was das zu bedeuten hat.
Wir setzen unseren Weg fort, schließlich wollen wir zu dem Trakt, in dem die jugendlichen Straftäter einsitzen und wo sich auch das Klassenzimmer befindet, in dem sie unterrichtet werden, der Raum in dem ich später lesen soll.
Dann kommen uns zwei Männer entgegen. Einer von ihnen ist Beamter, er trägt Uniform. Neben ihm läuft ein kleiner, unscheinbarer Mann. Der Kleine lächelt höflich, fast ein wenig verlegen und grüßt leise. Erst im Vorbeigehen sehe ich, dass er an den Beamten gefesselt ist. Schnell sind sie vorbei und wir gehen weiter, bis Heidi S. mich am Arm packt und zischelt: »Das war er!« Ich bin begriffsstutzig. »Wer er ?« »Der L.!« Ich kann es nicht glauben. Dieser schwächliche, farblose Mann mit dem weichen Babygesicht soll Mario L. sein – der Täter, der die kleine Ayla auf bestialische Weise umgebracht hat? Ich bekomme eine Gänsehaut. Jetzt weiß ich auch, warum alle anderen Gefangenen »verschwinden« mussten. Der Prozess gegen L. findet in diesen Tagen in
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