Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
Zwickau statt und so wird der Mann ab und an von seiner Zelle in den Gerichtssaal und wieder zurück gebracht. Kindermörder stehen im Gefängnis auf der untersten Stufe der Rangordnung. Wenn Mario L. durch das Labyrinth zum Gerichtssaal geführt wird, besteht die Gefahr, dass ihm einer seiner Mitgefangenen etwas antut.
Später gehen wir an seiner Zelle vorbei. Eine massive Balkentür, die mit mehreren Eisenriegeln verschlossen werden kann. Die Zellen sind hier alle so – sehen aus, wie in einem Gefängnisfilm aus dem vorigen Jahrhundert. Kein Wunder, das Gebäude wurde schließlich 1899 erbaut. Etwas ist an L.s Zelle jedoch anders – es steht kein Name auf dem Schildchen neben der Tür. Das sei zu gefährlich, erklärt man mir. Trotzdem weiß wohl jeder Gefangene hier, dass Mario L., der Mörder der kleinen Ayla, in Zwickau in Untersuchungshaft sitzt.
Die Begegnung wirkt noch lange nach. Der Mann hat mich freundlich gegrüßt, als träfen wir uns irgendwo in einer Einkaufspassage, als seien wir flüchtige Bekannte. Am meisten hat mich jedoch sein Habitus schockiert, obwohl gerade ich es doch besser wissen müsste… Ich schreibe es in meinen Büchern und Kurzgeschichten so oft: Man sieht es ihnen nicht an… Die Täter sind fast immer unscheinbar, unauffällig, angepasst. Keiner von ihnen hat ein Kainsmal auf der Stirn, niemand trägt seine Obsession sichtbar vor sich her. Und genau das macht es ihnen ja so leicht, an ihre Opfer heranzukommen. Obwohl – bei Mario L. hätte man es wissen können …
Prolog
17. Mai 2005
Ayla S. ist sechs Jahre alt. Ihr siebter Geburtstag steht kurz bevor. Auf dem später überall veröffentlichten Foto – es wurde zu ihrem Schulanfang gemacht – hält sie eine Fibel in den Händen. Sie trägt ein Jeansröckchen und ein Shirt mit rosa Ärmeln und schaut schelmisch in die Kamera. Es wirkt, als sei sie stolz darauf, nunmehr ein Schulkind zu sein. Ihr Gesichtsausdruck ist fröhlich, ein bisschen übermütig. Unverfälscht. Ein vergnügtes Kind.
Der Morgen des 17. Mais 2005 verläuft wie immer. Ayla frühstückt mit ihrer Mutter und macht sich dann für die Schule fertig. Gegen 7:45 Uhr verlässt sie das Wohnhaus in der Nähe des Nordplatzes in Zwickau. Sie trägt eine gelbe Jacke. Aylas Schule ist nur wenige Meter entfernt – fast in Sichtweite auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Mutter schaut noch kurz aus dem Küchenfenster. Dann kümmert sie sich um das Baby, Aylas Schwester, sieben Monate alt. Sie nimmt das Baby mit ins Wohnzimmer. Dort blickt sie noch einmal prüfend aus dem Fenster, kann Ayla jedoch nicht entdecken. Stattdessen sieht sie, wie ein fremdes Auto relativ schnell aus ihrer Hofeinfahrt fährt. Später erinnert sie sich, auch Kinderschreie gehört zu haben, die sie jedoch in diesem Moment nicht mit ihrer Tochter in Verbindung bringt.
Seit der Geburt der Schwester im Oktober 2004 darf Ayla allein zur Schule gehen – der Weg ist schließlich nicht weit und Ayla stolz darauf, dass man ihr dies zutraut. Nicht einmal eine Stunde später bemerkt Aylas Mutter, dass ihre Tochter die Turnschuhe daheim vergessen hat. Sie beschließt, ihr diese in die Schule zu bringen und macht sich auf den Weg.
An der Haltestelle Nordplatz auf der Leipziger Straße wartet ein 16 Jahre altes Mädchen auf die Straßenbahn, die um 7:50 Uhr kommt. Plötzlich hört sie ein Kind schreien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kann man durch eine Baulücke zwischen den Häusern in einen Hof sehen. Die Schülerin beobachtet, wie ein Mann versucht, ein kleines Mädchen in sein Auto zu befördern. Der Wagen steht in Fahrtrichtung in der Hofeinfahrt, die Kofferraumklappe ist geöffnet.
Anfangs hält die Schülerin die Szene für eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter. Sie kennt die Situation aus eigenem Erleben – der Autoschlüssel liegt im verschlossenen Wagen und das Kind soll durch die geöffnete Kofferraumklappe nach vorn krabbeln und die Tür öffnen.
Als jedoch der vermeintliche Vater versucht, hastig die Klappe zu schließen, obwohl die Beine des Mädchens noch herausragen, begreift die Schülerin, dass an der Erklärung mit dem verschlossenen Auto und dem Schlüssel etwas nicht stimmen kann, weil der Mann das Kind nun eilig heraushebt, anders wieder hineinlegt und die Klappe schließt. Das Auto mit dem Kind im Kofferraum – die Schülerin erkennt lediglich, dass es ein Modell mit Stufenheck ist – fährt nun rasch los und verschwindet aus ihrem
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