Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
Gebäude und Grundstücke in der Umgebung des Tatortes überprüft. Noch immer fahndet man nach dem mysteriösen »L.«, den oder das das Kind den Angaben ihrer Freundin nach am Montag aufsuchen wollte. Ein Mitschüler erzählt, Michelle kurz vor ihrem Verschwinden mit einem unbekannten Mann auf einer Parkbank gesehen zu haben. Stimmen die Angaben oder irrt sich das Kind?
Michelles Leiche wurde vor 24 Stunden gefunden. Noch ahnt niemand, dass sich die Suche nach dem Täter über viele Monate hinziehen wird.
Leipzig trauer t
Sonnabend, 23. August 2008
Es hat sich abgekühlt. Der Sonnabend wartet nur noch mit Höchsttemperaturen von 20 Grad auf – der Sommer scheint vorbei zu sein. Die Suche nach dem Mörder verläuft bisher erfolglos. »Es gibt keine heiße Spur«, teilt ein Polizeisprecher auf Anfrage mit.
Allein die Videoaufzeichnungen aus Straßenbahnen und Bussen betragen über 60 Stunden. Die Alibis der mehr als 250 aktenkundigen Sexualstraftäter werden systematisch überprüft. Noch einmal 5000 Fahndungsplakate werden an Taxifahrer und Leipziger Verkehrsbetriebe verteilt.
In Leipzig findet gerade die Computerspielmesse Games Convention statt, und auch an diese Besucher werden Flugblätter verteilt. Die Zahl der Hinweise hat sich inzwischen auf über 700 erhöht und allen muss nachgegangen werden. Experten – Fallanalytiker und Psychologen, werten Details aus.
Sie sollen der Polizei Fragen beantworten, zum Beispiel: Was ist der Täter für ein Mensch, welchen Bildungsstand hat er und in welchem Umfeld lebt er?
Die Spurensuche in dem leergepumpten Teich wird auch an diesem Sonnabend fortgesetzt. Noch immer fehlen die rosafarbene Kapuzenjacke und die Tasche von Michelle. Die Polizei veröffentlicht Fotos einer gleichen Jacke und Sporttasche.
Die Bild- Zeitung schreibt unterdessen, dass die Polizei einen Hinweis auf den Täter habe und veröffentlicht ein Phantombild. Im Frühjahr verfolgte ein Mann eine Elfjährige nach der Schule, riss sie zu Boden und belästigte sie. Das Mädchen konnte flüchten. Zwar bestätigt die Polizei, dass es einen solchen Vorfall gegeben habe, dementiert jedoch eine Verbindung zum Fall Michelle. Dies sei eine Spur unter vielen.
Auch die Angaben der Zeitung, nach denen es einen Kampf zwischen Michelle und ihrem Mörder gegeben haben soll, weil das Kind überall am Körper blaue Flecken gehabt habe und ihm Haarbüschel ausgerissen worden seien, dementiert die Kripo. Alle Details zum Tathergang werden zurückgehalten, um kein Täterwissen preiszugeben. Es bleibt unklar, ob die Bild spekuliert hat oder tatsächlich Insiderinformationen besitzt.
Die Einschulungsveranstaltung in Michelles Grundschule verläuft von den Medien unbehelligt, lediglich ein Team des MDR ist vor der Schule.
Es ist eine würdige Feier für die neuen Erstklässler. In zwei Tagen wird in ganz Sachsen das neue Schuljahr beginnen. In der 25. Grundschule in Leipzigs Osten wird ein Kind fehlen.
Am Abend des 23. Augusts 2008 findet in der Trinitatiskirche nahe Michelles Wohnort ein Gedenkgottesdienst statt. Es ist eine schlichte Kirche, die Decke eine Holzkonstruktion, die an das Innere eines großen Schiffes erinnert, einfache Glasfenster, vorn steht ein schmuckloses Kreuz.
Rund 350 Menschen versammeln sich, um Abschied von Michelle zu nehmen. Sie entzünden Kerzen und beten. Manche gedenken nur still des getöteten Kindes, andere sind voller Verzweiflung oder Zorn. Am Altar liegen Fotos und Zeitungsausschnitte.
Der Pfarrer spricht, erinnert die Menschen daran, zueinander zu halten, nicht allein zu bleiben, sich beizustehen. »Jetzt könnten die Tränen fließen«, sagt er. »In uns ist neben der Traurigkeit auch Wut und Verzweiflung und unendliche Ratlosigkeit.«
Auch andere Leute ergreifen das Wort. Eine junge Frau von der »Bürgerinitiative für die Suche nach Michelle« fordert härtere Strafen für Kinderschänder, ein schärferes Vorgehen des Staates gegen solche Täter.
Immer wieder taucht der Slogan »Todesstrafe für Kinderschänder« auf Plakaten in Interviews und auch gedruckt auf T-Shirts auf. Die »Nationalen Sozialisten« nutzen den Tod des kleinen Mädchens als Plattform.
Michelles Vater erklärt: »Wir wollen mit dem braunen Sumpf nichts zu tun haben.« Laut ihrer Anwältin wussten die Eltern nicht, dass ein Onkel Michelles einer der Organisatoren dieser Kundgebungen sei. Die Familie wolle ihn nun bitten, diese Aktivitäten einzustellen.
Montag, 24. August 2008
Es bleibt kühl für
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