Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
davon aus, dass V.s sexuelle Vorstellungen mit aggressiven Phantasien gekoppelt sind. Bleibt seine soziale Kompetenz weiter eingeschränkt, so ergebe sich ein hohes Risiko. Nach Einschätzung des Gutachters müsse V. »angemessen behandelt« werden.
Der Verteidiger sieht das anders. Für ihn ist Daniel V. besser in einer sozialtherapeutischen Einrichtung, in der seine Reifungsdefizite behandelt werden können, aufgehoben. Im Anschluss an die Ausführungen des psychologischen Gutachters schildert eine Sachverständige von der Jugendgerichtshilfe im Landgericht Leipzig ihre Eindrücke. Daniel V. sei intellektuell normal entwickelt, in sozialer Hinsicht jedoch zurückgeblieben. Es fehle ihm an Einfühlungsvermögen.
Nach dem Abschluss der zehnten Klasse hat Daniel V. eine Ausbildung zum Sozialassistenten begonnen. Sozialassistenten sind vor allem für die Pflege und Betreuung von Kindern und Jugendlichen tätig.
Im Rahmen dieser Ausbildung, so die Sachverständige der Jugendgerichtshilfe, habe der Angeklagte auch Praktika absolviert, unter anderem in einem Kindergarten. Dabei sei es ihm nicht gelungen, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Emotionale Befindlichkeiten seiner Gesprächspartner verstehe er nicht.
Auch die Betreuerin von Michelles Familie, eine Mitarbeiterin der Organisation Weißer Ring , sagt aus. Der Weiße Ring ist eine Hilfsorganisation für die Opfer von Kriminalität und ihre Familien. Die Organisation tritt für die Interessen der Betroffenen ein und unterstützt den Vorbeugungsgedanken.
Das Leben von Michelles Familie ist laut Angaben der Betreuerin emotional und finanziell zerstört. Die Eltern hätten keine wirtschaftliche Grundlage mehr, ihre Jobs hätten sie nach dem Wegzug aufgegeben, seien auf Unterstützung angewiesen. Nach wie vor sei die Familie schwer traumatisiert. Ihr ausdrücklicher Wille sei es, dass der Mörder ihrer Tochter so lange wie möglich eingesperrt werde.
4. Prozesstag: Freitag, 2. Oktober 2009
Heute soll das Urteil im Fall Michelle verkündet werden. Es war ein kurzer Prozess.
Das Plädoyer des Staatsanwaltes Klaus-Dieter Müller dauert eine Stunde. Die Staatsanwaltschaft fordert die Höchststrafe von zehn Jahren. Zehn Jahre deshalb, weil Jugendstrafrecht angewendet werden soll. Daniel V. war zum Tatzeitpunkt erst 18 Jahre alt, zudem liege bei ihm eine »mangelnde sittliche und geistige Entwicklung« vor.
Die Höchststrafe fordert der Staatsanwalt wegen der »hohen Brutalität«, mit der der Angeklagte die Tat begangen hat. Eine solch massive Gewalt, bei dem einem kleinen Mädchen Zähne und Teile des Unterkiefers herausgebrochen werden, habe er in seiner langjährigen Praxis noch nicht erlebt, zudem habe ihn erschüttert, dass die Leiche einen Blutalkoholgehalt von 0,83 Promille aufwies.
Michelles Todeskampf habe Minuten gedauert. »Es war ein Martyrium für sie«, so der Oberstaatsanwalt. Dazu komme, dass Daniel V. die Arglosigkeit des Kindes ausgenutzt habe. Die Vergewaltigung sei von vornherein geplant gewesen. Als das achtjährige Mädchen sich wehrte, habe der Angeklagte aus »Wut und Rache« auf das wehrlose Kind eingeschlagen und sie anschließend erwürgt. Der Mord sei keine Tat im Affekt gewesen, sondern geschah, um die vorhergehende Tat zu verdecken.
Das Geständnis des Daniel V. könne nicht strafmildernd wirken. Er habe zwar die Tat gestanden, dies jedoch erst nach stundenlanger Vernehmung und zahlreichen Ausflüchten. Dass er sich der Polizei »freiwillig« gestellt habe, sei nur geschehen, weil die Ermittler sich an jenem Tag sowieso schon bei ihm zum DNA-Test angekündigt hätten. Nach Ansicht des Oberstaatsanwalts ist der angeklagte 19-jährige Daniel V. trotz Defiziten in der körperlichen und geistigen Entwicklung voll schuldfähig.
Die Rechtsanwältin der Familie schließt sich dem Plädoyer des Staatsanwaltes an, fordert jedoch im Namen der Eltern, für Michelles Mörder zusätzlich anschließende Sicherungsverwahrung zu verhängen. Seit 2008 kann diese auch bei jugendlichen Straftätern angewendet werden. Das Gericht kann im Urteil den Vorbehalt dafür festlegen. Das bedeutet, dass Daniel V. am Ende der Haftzeit – er wäre dann 28 Jahre alt – auf seine Gefährlichkeit hin begutachtet werden würde. Bis jetzt hat der 19-Jährige die Mitwirkung an einem solchen ausführlichen psychiatrischen Gutachten abgelehnt.
Der Verteidiger plädiert auf achteinhalb Jahre Haft. Auch er geht zwar von Mord aus, weist jedoch darauf hin, dass es
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