Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
Fachmann ausgewählt, den Kinder- und Jugendpsychiater Michael G. von der Universität Tübingen.
Daniel V. jedoch hat eine psychiatrische Begutachtung abgelehnt – auf Anraten seines Verteidigers.
Wovor fürchtet sich die Verteidigung?
Davor, dass bei Daniel V. Defizite und Krankheitszeichen festgestellt werden, die dazu führen, dass er statt ins Gefängnis in den Maßregelvollzug kommt? Dass der Gutachter ihn als »schuldunfähig« einstuft? Dann nämlich käme der Patient nicht nach Verbüßung der Haftstrafe automatisch frei, sondern bliebe womöglich lebenslang im psychiatrischen Krankenhaus. Allerdings fände hier auf jeden Fall eine Behandlung statt – im Gefängnis kann sich der Täter einer Therapie verweigern.
Womöglich will der Verteidiger seinem Mandanten den Maßregelvollzug ersparen. Aber was, wenn Daniel V. tatsächlich so schwer gestört ist, dass er behandelt werden muss? Kann ein Verteidiger, der Jura und nicht Psychologie studiert hat, dies überhaupt diagnostizieren? Kann er das Risiko einschätzen, kann er die Psyche seines Mandanten beurteilen? Und kann er mit der Schuld leben, falls sein Mandant später ähnliche Delikte verübt?
Weil der Angeklagte also die Kooperation verweigert, bleibt dem bestellten Sachverständigen nichts anderes übrig, als Einblick in die Akten zu nehmen und sich vor Gericht ein Bild über den Angeklagten zu machen. Er hört die Zeugen und beobachtet das Geschehen. Er versucht, den Reifezustand des Täters zu beurteilen. Für eine gründliche Erforschung und eine fundierte Einschätzung des Angeklagten reicht das leider nicht aus. Und so formuliert der Sachverständige »Arbeitshypothesen«:
Daniel V.s Erfahrungshorizont reiche über den engsten Familienkreis »Mutti« und »Oma« nicht hinaus. Schon als Kind habe er zu Affektausbrüchen geneigt, sich provozieren lassen, in unerwarteten Situationen schnell die Kontrolle verloren. Daniel V. reagiere unbeherrscht und kopflos, sein Verhalten könne er selbst nicht einschätzen. Empathie, also das Mitgefühl für andere, fehle ihm fast völlig. Vermutlich leide V. an einer tief greifenden Entwicklungsstörung mit stereotypen, abnormen Verhaltensmustern. Dies zeige sich an Symptomen wie Kontaktstörungen, schematischen Verhaltensweisen und dem Festhalten an Ritualen. Anzeichen von Integrations- und Verhaltensstörungen gebe es in der gesamten Kindheit des Daniel V.
Der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater vermutet, dass bei V. das Asperger-Syndrom vorliegt.
Hierbei handelt es sich um eine ausgeprägte Kontakt- und Kommunikationsstörung. Die Betreffenden sind auffällig »ungeschickt« in ihrem Sozialverhalten, oft auch motorisch ungelenk und zeigen auffällige emotionale Distanz gegenüber anderen. Eine Kontaktaufnahme geschieht lediglich verstandesmäßig, Gefühle anderer werden nicht wahrgenommen. Fast immer sind Asperger-Patienten jedoch normal intelligent.
Gefühle gegenüber anderen, so der Gutachter, habe auch Daniel V. nicht zeigen können. Er sei leicht irritierbar gewesen. Nur strenge Regeln halfen ihm im Alltag. Die Frustrationstoleranz des Angeklagten sei gering ausgeprägt. In der Kindheit habe er in solchen Situationen mit aggressivem Verhalten reagiert.
Sexualität sei in dem vaterlosen Haushalt nie ein Thema gewesen, die Mutter des Angeklagten sei nach eigenem Bekunden stattdessen froh gewesen, dass ihr Junge kein Interesse an Mädchen gezeigt habe. Die sexuellen Phantasien des Heranwachsenden habe man ignoriert oder nicht zur Kenntnis genommen. Dazu käme bei V. die lang bestehende Angst vor der Ablehnung durch Gleichaltrige. So habe er gar nicht erst versucht, Kontakt zu Mädchen zu suchen, sondern sich stattdessen in seiner Sexualität zurückgesetzt gefühlt.
Das alles führe letztendlich dazu, dass sich der Wunsch nach sexuellen Kontakten auf vermeintlich Schwächere, auf Kinder fokussiert. Wenn das Kind sich dann wehrt, schreit oder versucht wegzulaufen, komme es zu einer starken Irritation des Täters. Die latente Aggressivität und Wut, die sich durch jahrelange Demütigungen aufgestaut haben, entlüden sich dann jäh.
Ob die Perversion bei Daniel V. bereits fixiert sei, kann der Sachverständige ohne genaue Untersuchung nicht einschätzen, auch nicht, ob seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit eingeschränkt war. Das Gleiche gilt für eine Prognose der Gefährlichkeit des Täters und seiner »Perversionsentwicklung«.
Der renommierte Jugendpsychiater geht insgesamt
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