Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
habe keine Freunde gefunden. Der Sohn einer Bibliothekarin sei das »perfekte Mobbingopfer«. Seine körperlichen Besonderheiten bedeuteten für ihn Bewegungseinschränkungen, so der Anwalt. Dass Daniel V. Mitglied in einem Hockeyverein war, tanzte und auch regelmäßig schwamm, scheint hierbei keine Rolle zu spielen. Stattdessen verweist der Rechtsanwalt auf das umfassende Geständnis und betont wiederholt, dass V. bis zu der Tat an Michelle strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten sei.
»Für meinen Mandanten ist es selbst ein Rätsel, weshalb er Täter geworden ist«, äußert sich Malte H. Daniel V. habe »Veränderungspotential«, er benötige »Hilfe und keine Verdammnis«. Es werde Jahre dauern, ehe er das Ausmaß seiner Tat begriffen haben wird, sagt der Verteidiger. Er gehe davon aus, dass der Mörder von Michelle nach Jugendstrafrecht verurteilt wird, schließlich sei er zur Tatzeit erst 18 Jahre alt gewesen.
Auch in der Erklärung des Angeklagten ist der Diktus seines Verteidigers deutlich hörbar. Mit Sicherheit würde Daniel V. selbst nicht davon sprechen, dass er eine Freundin »gewinnen« wollte; oder dass dieser »Ansatz« an seiner »Schüchternheit scheiterte«. Und doch sind aus den beschönigenden Ausführungen ohne Weiteres die grausamen Details herauszuhören, die die Gefühlskälte des Daniel V. deutlich machen.
Im Anschluss an die Verlesung der Erklärung sind Sachverständige und Zeugen geladen. Gleich am ersten Prozesstag spricht auch der Rechtsmediziner Dr. Carsten Hädrich von der Universität Leipzig. Er hat den toten Körper des achtjährigen Mädchens untersucht. Der Sachverständige hat zur Sicherheit Laptop und Beamer mitgebracht, und bis zu diesem Prozess ist es auch üblich, dass Tatortfotos und rechtsmedizinische Befunde den Richtern, der Staatsanwaltschaft, den Schöffen und dem Verteidiger auf einer Leinwand gezeigt werden – so müssen nicht umständlich kleinformatige Fotos herumgereicht werden, jeder sieht zur gleichen Zeit dasselbe und hört dazu die Erklärungen. Und so soll es auch im Fall Michelle geschehen. Eine Leinwand wird entrollt und in Richtung Publikum gedreht, die Projektion ist für jeden im Gerichtssaal gut sichtbar.
Mangelt es dem Gerichtsmediziner an Taktgefühl? Doch die öffentliche Präsentation der Bilder ist nicht die Idee des Mediziners, sondern war der Wunsch des Gerichts, so ein Sprecher der Univer sität Leipzig im Nachhinein. Die 3. Strafkammer hat sich auf die vorherige Nachfrage des Rechtsmediziners hin ausdrücklich für diese Form der Darstellung entschieden.
Entsetztes Schweigen breitet sich im Gerichtssaal aus, als das erste Foto zu sehen ist. Es zeigt die aufgefundene Kinderleiche. Um den nackten Oberkörper wickeln sich Reste des T-Shirts, die Jeans ist halb heruntergezogen.
Doch es soll noch schlimmer kommen. Während der Rechtsmediziner in lakonischem Tonfall von den unzähligen Verletzungen spricht, zeigt er Bilder des toten Kindes. Von vorn, von hinten.
Zuschauer wenden sich entsetzt ab, verbergen ihre Gesichter in den Händen, manche weinen.
Zum Abschluss seiner Ausführungen folgt ein Foto des Genitalbereichs mit seinen Verletzungen. Während der ganze Saal in Schockstarre verharrt, blickt Daniel V. nicht einmal auf. Sein Blick ist nach unten gerichtet, die Fotos scheinen ihm unangenehm zu sein. Ab und zu hält er sich die Hand vors Gesicht, wischt sich mit den Fingern über die Stirn.
Nach dieser Vorführung streiten sich die Medien. War es nötig, diese Fotos zu zeigen? Mussten die schrecklichen Bilder minutenlang auf der Leinwand stehen? Üblicherweise werden solche Bilder in Gerichtssälen nicht in aller Öffentlichkeit gezeigt, und doch ist es nicht verboten. Die Anwältin von Michelles Eltern spricht von einem »zweischneidigen Schwert«. Im Normalfall werden Obduktionsfotos am Richtertisch angeschaut. Eine öffentliche Darstellung mache die Grausamkeit des Verbrechens deutlich, zeige die Gefühllosigkeit des Täters. So etwas könne durchaus Einfluss auf die Strafzumessung haben.
Michelles Eltern bleibt die Demonstration erspart. Auch wenn sie den Prozess im Gerichtssaal verfolgt hätten, wären sie von ihrer Anwältin vor der Bekanntgabe des Obduktionsberichtes aus dem Saal gebeten worden.
Sogar der sonst maßvoll formulierende Spiegel schreibt polemisch: »… Es sind Sitten eingerissen bei manchen Rechtsmedizinern, die der Würde des Opfers und dem Respekt vor den Hinterbliebenen – und auch den Gefühlen
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