Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
er nicht, ob dieser Brief noch existiere oder wo er jetzt sei.
Der Staatsanwalt kommentiert dies mit: »Das sind ausschließlich Gerüchte.« In der Ermittlungsakte von 1984 gebe es keinen solchen Brief.
5. Prozesstag: Montag, 28. April 2008
Der gestrige Sonntag hat seinem Namen alle Ehre gemacht, es war warm und sonnig, aber heute regnet es und die Temperatur hat sich passend zu den Vorgängen im Landgericht Aachen merklich abgekühlt. Heute geht es vor dem Schwurgericht um das Schicksal des fünften Opfers – Sabine N.
Auch ihr Sohn Robert, mittlerweile 29 Jahre alt, ist als Nebenkläger anwesend und wird als Zeuge gehört. Er erinnert sich an die Verabschiedung von seiner Mutter am Abend des 15. Juni 1990 und dass sie zum Disko-Bus wollte. Dann beschreibt er, wie er am nächsten Morgen zum Kuscheln in ihr Bett schleichen wollte, seine Mutter jedoch nicht vorfand und wie er anschließend ziellos mit dem Rad hin und her fuhr, ehe er sich bei seinem Stiefvater Norbert meldete.
Auch die jahrelangen Verdächtigungen gegen den Stiefvater kommen vor Gericht zur Sprache. Norbert N., Ehemann von Sabine N., geriet sofort nach ihrem Verschwinden ins Visier der Ermittler; besonders deswegen, weil er kurz nach dem Verschwinden seiner Frau mit einer Freundin auf die Malediven flog – so als hätte er nur auf das Verschwinden von Sabine gewartet.
Das Rätselraten um den Mörder der jungen Mutter, die als »offen und lebensbejahend« geschildert wird, dauert Jahre. Sabine N.s Vater, zu der Zeit Polizist, schien auch nach dem Auffinden der Leiche ein Jahr später noch fest daran zu glauben, dass sein Schwiegersohn die Tat begangen habe. Immer wieder wird Norbert N. zu Vernehmungen vorgeladen, das letzte Mal im Jahr 2004 – da widerruft seine Freundin das falsche Alibi, das sie ihm für die Tatnacht gegeben hat – aus Gewissensgründen, wie sie dem Vorsitzenden Richter erklärt. Und doch hat Norbert N. nichts mit dem Tod seiner Frau zu tun, auch wenn dies erst 2007 durch das Geständnis des Egidius S. ans Licht kommt. Warum er sich das falsche Alibi überhaupt hat attestieren lassen, kann Norbert N. nicht sagen. Womöglich fürchtete er genau das, was später trotzdem eingetreten ist – dass man ihn der Tat verdächtigt.
Der Richter lässt den Zeugen seinen Unmut spüren, nicht nur den Unmut über das falsche Alibi, sondern insbesondere auch darüber, dass vieles aus diesem Fall tagtäglich in den Medien abgehandelt wird. Auch Norbert N. ist noch ein paar Tage zuvor in einer Fernsehsendung aufgetreten und antwortet dem Richter nun auf die Frage, ob dies nötig war: »Ich will zeigen, dass das alles […] dass so eine Tat sehr weite Kreise schlägt und große Ausmaße annimmt.« Und damit hat er recht. Die Verbrechen des Egidius S. zerrütten ganze Familien, richten Menschen zugrunde, zerstören Lebensläufe.
Egidius S. schweigt, wie er all die Tage geschwiegen hat. Der Vorsitzende Richter fragt die Angehörigen deshalb von Zeit zu Zeit, ob es »ihnen helfen würde, wenn jemand die Verantwortung übernimmt und hier Reue zeigt«. Dabei ruht sein Blick auf dem Angeklagten. Doch dieser zeigt kein Bestreben, Verantwortung zu übernehmen, keine Reue.
So etwas Niveauloses habe ich seit Jahrzehnten nicht gehör t
6. Prozesstag: Dienstag, 29. April 2008
Heute soll nun endlich die Ehefrau des Angeklagten, Anke S., vor Gericht gehört werden. Anscheinend hat sie ihre Angstzustände überwunden. Ihre Aussage wird für Sprachlosigkeit sorgen.
Zuerst ist aber der Ermittler geladen, der viele Jahre lang die Untersuchung der Spermaprobe vorantrieb und die Probe 2001 ein drittes Mal zum Abgleich in die Datenbank des Landeskriminalamtes übersandte. Drei Stunden gibt er Auskunft über seine unermüdliche Arbeit, erklärt die Abläufe bei Vergleichen genetischer Fingerabdrücke und wie er die Hoffnung nie aufgab, den Mörder zu finden.
Im Vorfeld hatte der gründliche Polizist nichts unterlassen, um dem Täter auf die Spur zu kommen, hatte sogar ausländische Datenbanken durchforstet – schließlich liegt die Nato-Basis in Teveren nicht weit entfernt.
Da S.’ genetischer Fingerabdruck jedoch nicht gespeichert war, musste all das Nachforschen bis 2007 erfolglos bleiben.
Egidius S. konnte die Ermittler im Anschluss nach seinem Geständnis auch zu den Tatorten und Leichenfundorten führen. In drei Fällen fand er die jeweiligen Plätze punktgenau wieder, in zwei Fällen war er sich nicht mehr ganz sicher, wo er die Mädchen getötet
Weitere Kostenlose Bücher