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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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als beim oberflächlichen Darüberhinweglesen ( transverse reading ), das seinen Sinn darin hat, einen Text auf Informationen hin zu scannen (Maryanne Wolf, Das lesende Gehirn , 2009).
    Mit allem, was sie lesen, schreiben Menschen an ihrem Leben und erarbeiten sich ihre eigene Lesebiographie . Mit allem, was sie schreiben, stellen sie im Gegenzug Anderen Lesestoff zur Verfügung und geben künftigen Zeiten weiter, was sie denken und wissen, erträumen und befürchten. Vor allem Bücher dienen als ontologische Katalysatoren , mit deren Hilfe innere und äußere Wirklichkeiten und Möglichkeiten verdichtet und weitergereicht werden können: Das macht ihren Reiz aus, dafür werden sie geliebt.
    Größter Beliebtheit erfreuen sich Geschichten von den Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe , von den Träumen und Problemen der Liebenden, von ihrer Vertrautheit und ihrer Fremdheit, die nur zeitweilig zu überbrücken ist, von ihrer Bindung, ja, Fesselung durch Leidenschaft und von deren Schwinden beim Versuch, eine dauerhafte Beziehung aus der momentanen Aufwallung zu machen. In der Fantasy -Literatur behaupten Fabelwesen das Reich der Möglichkeiten gegen jede Wirklichkeit und brechen die reale Welt mit träumerischem Surrealismus auf. Diese Geschichten leben vom Traum aller Romantiker, dauerhaft bei Feen, Elfen, Nymphen, Faunen und Einhörnern verweilen zu können und keinen Kompromiss mehr mit dem banalen Alltag eingehen zu müssen (Andreas Kraß, Meerjungfrauen , 2010).
    Aber auch der äußeren Form von Büchern kann eine leidenschaftliche Liebe zukommen, die dem Leben Sinn gibt und Element einer Kunst des Liebens ist: Die Bibliophilie gilt Büchern allgemein oder bestimmten Büchern, älteren oder neueren Büchern, mit denen ein intimer Umgang gesucht wird, der bis zur Manie reichen kann. Es ist aufregend, sie zum ersten Mal zu sehen, anzufassen, aufzublättern, Papier, Leim und Druckfarbe zu riechen. Das Glück ist perfekt, wenn das ansprechende Äußere mit einem spannenden Inneren einhergeht, aber Bedingung der Liebe ist das nicht.
    Im 21. Jahrhundert wird der Körper des Buchs, dem über Jahrhunderte hinweg so viel Liebe zuteilwurde, durch das E-Book ergänzt und ersetzt, begleitet von Befürchtungen, das sinnliche Erlebnis des Buchs könne damit in Vergessenheit geraten. Aber das elektronische Buch gewinnt seine eigene Körperlichkeit und Sinnlichkeit und vermag die seelischen, geistigen und transzendenten Ebenen des Sinns zu bewahren, schon aus diesem Grund kann ihm gleichfalls Liebe zuteilwerden. Auch virtuell ist es möglich, mit jedem Satz tiefer in eine andere Welt hineinzugleiten, sich darin wie beim Blick in die Augen eines Anderen zu verlieren – und sich mit dem letzten Satz plötzlich wieder auf die eigene Wirklichkeit zurückgeworfen zu fühlen.
    Und nicht nur die Liebe zu Künsten aller Art und Büchern in jeder Form ist Teil einer Kunst des Liebens, sondern ebenso die Liebe zu Wissenschaften , die sehr viel zur Kulturgeschichte beiträgt. Es kann die Liebe derer sein, die Wissenschaft betreiben, wie auch derer, die sich für ihre Prozesse und Resultate interessieren. Ihren Bezugspunkt hat diese Liebe zunächst in sinnlich erfahrbaren Objekten, in der Biologie ebenso wie in der Soziologie. Die Zuwendung und Zuneigung gilt allen Phänomenen der Wirklichkeit, deren Bestandteile und Zusammenhänge seziert und analysiert werden, um zu bemerken, dass viele von ihnen mit Zahlenverhältnissen erfassbar sind, also mit Mathematik , die erstaunlicherweise »auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich passt« (Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung , Vortrag, Berlin 1921). Fast scheint es, als hätte die Mathematik in moderner Zeit eine führende Rolle bei der Konstituierung von Sinn übernommen, die jedenfalls wissenschaftlich Interessierte zufriedenstellt.
    Wissenschaftler selbst beziehen Sinn vor allem aus der innigen Liebe zu ihrem Gegenstand; sie zeigen dabei oft die gleichen Symptome, wie sie für die Verliebtheit zwischen Menschen typisch sind, hier aber weit länger vorhalten: Fixierung auf das Objekt, das eifersüchtig gehütet wird, entrückter Blick, Geistesabwesenheit, Zeitvergessenheit, Tagträumerei, stilles Lächeln in sich hinein und eine Erfülltheit, die sich nur der Erfahrung eines intimen Zusammenseins verdanken kann. Selbst Hunger und Durst vermag der Umgang mit dem geliebten Objekt zu stillen, zumindest zeitweilig. Manchen Wissenschaftlern wird, wie

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