Dem Leben Sinn geben
Ingenieurskünste sowie moderne Techniken aller Art. Als Kunstwerke gewürdigt werden können dann zahllose einfallsreiche, gut gemachte Dinge, deren Schöpfer oft namenlos in der Geschichte verschwunden sind, obwohl es sie gegeben haben muss: Irgendwann hat jemand zum ersten Mal Teig zu fadenartigen Nudeln langgezogen, dicke Teigwürste zu Brezen geschlungen, Fleisch in Teig eingewickelt.
Auch bei den allermeisten Wortschöpfungen einer Sprache ist nicht klar, wer ihr Urheber ist, und dieser Prozess setzt sich in der Gegenwart fort, in der ständig neue Worte in Umlauf kommen. Niemand kennt die Erfinder von Techniken, die imAlltag vieler Menschen eine bedeutende Rolle spielen: Wer hat das Bett erfunden, wer die Haustür, wer das Rad? Beinahe anonym geblieben wäre auch die Erfinderin der »Pilzfrisur«, die mit den Beatles populär wurde: Die Hamburger Fotografin Astrid Kirchherr erprobte den Schnitt 1960 erstmals an ihrem Geliebten, dem Bassisten Stuart Sutcliffe, der die Band wenig später verließ (Arne Bellstorf, Baby’s in black , 2010).
Jeder Mensch kann ein Künstler sein: Zu den wichtigsten Gebrauchskünsten und Künsten des Alltags zählt die rezeptive Kunst, Essen zu genießen, abhängig von der produktiven , es zuzubereiten, aber die Künstler der Kochkunst sind meist nur dem engeren Umfeld der Familie, dem Freundes- und Bekanntenkreis, in Restaurants häufig nur den Stammgästen geläufig. Die Liebe zum Essen , die dem Leben so viel Sinn geben kann und irgendwo zwischen dem milden Mögen im Alltag und der hemmungslosen Hingabe an den Festtagen zwischendurch angesiedelt ist, beruht auf dem Geschmacks- und Geruchssinn, zumindest bei der Zubereitung auch auf dem Tastsinn. Eine liebevolle Zubereitung ist ein Ausdruck der Liebe zu sich selbst und zu Anderen, die durch den Magen geht und dazu anspornt, wählerisch und überlegt mit Ernährungsfragen umzugehen. Seit in moderner Zeit beliebig viele Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, ist jedoch die Versuchung groß geworden, ebenso beliebig davon Gebrauch zu machen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für sich und Andere.
Es ist die moderne Befreiung von religiösen, traditionellen und natürlichen Vorgaben des Essens, die eine funktionale, sorglose Beziehung dazu begünstigt. Die aber kann den Magen irritieren und die Grundlagen der Ernährung unterminieren. Der gewonnenen Freiheit Formen zu geben, heißt hier, sich um eine sorgsame Beziehung zum Essen zu bemühen, die zugleich die Beliebigkeit bei der Herstellung der Produkte, ihrem Transport und ihrem Gebrauch eindämmen kann. Eine Antwort auf das lieblos zubereitete und gedankenlos verschlungene Fast Food gibt die neue Liebe zum Essen in der Slow-Food -Bewegung: »Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche gegen die universelle Bedrohung durch das Fast Life zu verteidigen«, hieß es im Manifest, mit dem Carlo Petrini am 9. Dezember 1989 in einer Osteria in Treiso bei Alba in Italien die Bewegung gründete. Eine wachsende Zahl von Mitstreitern rund um die Welt achtet seither auf die handwerklich gute, ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Herstellung der Ingredienzien des Essens, das umso mehr zu genießen ist.
Auch für die Liebe zum Wein , stellvertretend für andere Getränke, steht die ganze Skala zwischen Mögen und Hingabe zur Verfügung. Wählerisch oder wahllos, maßvoll oder maßlos kann von ihm Gebrauch gemacht werden. Individuelle Vorlieben werden von kulturellen Gewohnheiten beeinflusst, aber auch dort, wo Wein ein Teil der Alltagskultur, sein Konsum nicht immer eine Kunst ist, kann der Einzelne darauf beharren, selbst eine Wahl zu treffen und ein eigenes Maß zwischen den Extremen des Zuviel und Zuwenig zu finden.
Seit jeher wird die anregende Wirkung des Weines gesucht, aber auch gefürchtet, denn »wenn der Wein sie erhitzt, beginnen die Brüste und Schamglieder in allzu ungehöriger Weise von Saft und Kraft zu strotzen«, beobachtete Clemens von Alexandrien im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinem christlichen Lebensratgeberbuch Paidagogos (II, 20, 4). Wein wollte er nur den Älteren zugestehen, nur ein wenig, »um den schwächlichen Körper zu kräftigen«, vorzugsweise im Winter und am Abend, da sonst die »Lebenswärme erkaltet«.
Der Weinliebhaber aber verfeinert den Genuss noch durchdie Kenntnis der Rebsorten, Anbaugebiete, Lagen und Böden; er kennt die Sonnentage eines Jahrgangs und die Menge der geernteten Trauben; seinen Wein bezieht er am liebsten von dem Weinbauern, den er
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