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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Zusammenhänge zu sein scheint, die irgendwie möglich, aber nicht unbedingt wirklich sein können. Die Schöpferkraft, die dem Genie zugeschrieben wird und dem Wahnsinn nicht selten nahe kommt, manifestiert sich in der Fähigkeit zur Transzendenz , denn sie überschreitet scheinbar mühelos die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, Schein und Sein, um stets neue Zusammenhänge zu finden und zu erfinden. Oft geht sie aus abgründigen Erfahrungen hervor und baut Brücken über Abgründe, indem sie die Fülle der Möglichkeiten und die schöpferische Kraft eines immer neuen Werdens vor Augen führt.
    Dieses Schöpfen aus dem unerschöpflichen Reich des Möglichen lässt Künste und Künstler der Religion so nahe sein: Jede Kreativität ist säkulare Religiosität , weltlicher Gottesdienst, denn sie hat immer mit dem unendlichen Horizont von Möglichkeiten zu tun. Die Arbeit am Werk selbst ist eine Art von Transzendenz, denn sie besteht darin, aus einer Quelle, die das Ich überschreitet, etwas über das Ich hinaus zu schaffen, das lange, möglichst für immer Bestand hat. Auf geniale Weise Möglichkeiten in den Blick zu bekommen, heißt allerdings noch lange nicht, sie auch in einem Werk verwirklichen zu können: Menschen mit genialer Begabung fehlt es nie an Ideen, oft aber an der Fähigkeit zur Umsetzung in wirkliche Dinge mithilfe von Arbeit und Anstrengung, Übung und Durchhaltevermögen.
    Die Liebe eines Menschen gilt allen oder einzelnen Künsten und Künstlern, allen oder einzelnen Kunstrichtungen und Stilen, allen oder einzelnen Kunstwerken, diesem oder jenem Bild, Film, Stück, Buch, Thema. Jede Kunst und jedes Kunstwerk spricht verschiedene Sinne und Sinn-Ebenen des Menschen an und aktiviert auf je eigene Weise die sinnliche, seelische, geistige und transzendente Ebene des Sinns. Einige integrale Künste wie etwa Film, Theater, Oper, Musical umfassen fast alle Sinne und Sinn-Ebenen zugleich: Die Erfahrung der Fülle des Sinns, die sich daraus ergibt, dürfte ein entscheidender Grund für die nicht endende Liebe zu diesen Künsten sein – aber auch andere Künste bieten einigen Reichtum an Sinn:
    Die Liebe zum Tanz weckt den Bewegungssinn und, da dem Tanz meist Musik zugrundeliegt, den Hörsinn, auch den Tastsinn, wenn ich mit einem Anderen tanze, sowie den Sehsinn, wenn ich den Tanz Anderer betrachte. Der äußeren Bewegung der Glieder entspricht die innere der Gefühle, die seelischen Sinn hervorbringt, und seit jeher erzeugen tanzende Bewegungen auch transzendente Erfahrungen, bei denen sich das Ich vergisst.
    Die Liebe zur Malerei steht naturgemäß mit dem Sehsinn im Bunde, der sich selbst genügen kann, mit entstehenden Gefühlen aber auch seelischen Sinn wachruft, mit gedanklichen Deutungen geistigen Sinn anregt, zuweilen das Fühlen und Denken zur Transzendenz hin öffnet, worauf die Landschaften Caspar David Friedrichs im 18./19. oder die Farbfelder Mark Rothkos im 20. Jahrhundert zielten.
    Die Liebe zur Bildhauerei spielt mit dem Tastsinn, dem freilich meist nur die Künstler frönen dürfen, während die Betrachter sich mit dem Sehsinn begnügen sollen: »Bitte nicht berühren!« Nur beim Kunsthandwerk ist das anders, etwa beider Gebrauchskeramik, die jeder nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Händen umfangen kann.
    Nicht alle Künste berühren alle Menschen, die meisten aber werden von Musik berührt, sinnlich, seelisch, geistig, transzendent. In der Liebe zur Musik lebt der Hörsinn auf, der im Zusammenspiel mit dem inneren Sinn des »Bauchgefühls« die seelisch-geistigen Energien offenkundig am stärksten bewegt. Zum persönlich definierten Kern eines Selbst gehören nahe-zu immer musikalische Vorlieben , in denen seine Erfahrungen, Ideen, Sehnsüchte, Werte, Charakterzüge und Gewohnheiten, sein Unglücklichsein und seine Vorstellungen von Glück und Schönheit zum Ausdruck kommen. Ich schwelge in den Klängen, mit denen Johann Strauß den Walzer zum Exzess treibt, Richard Strauß ihn in den Wahnsinn treibt, während Alexander Glasunow, Dmitri Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan ihn mit schrägen Klängen neu erfinden. Eine Stimmung entsteht, in der die Seele mit längerem Nachklingen geraume Zeit verweilen kann. Jeder Ton zupft eine Saite des Menschseins an und jede Anordnung der Töne ordnet das Innere des Selbst, sodass es ihm möglich wird, sich von Neuem mit sich zu befreunden und wieder auf Andere zuzugehen. Ein Mensch kann zu sich selbst finden, wenn er seine

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