Dem Leben Sinn geben
Lieblingsmusik hört, und erst recht, wenn er selbst Musik macht: »Ohne meine Musik hätte mich das innere Chaos jedenfalls schon längst verschlungen«, meinte die junge französische Chansonsängerin Zaz 2011 in einem Interview.
Für den Musiker wie für den Hörer ist Musik der kurze Weg zur Fülle des Sinns , die auf allen Ebenen zugleich erfahrbar wird: Töne, Klänge, Stille und Geräusche, Schwingungen, Spannungsbögen, Rhythmen, Melodien und ihre immer neuen Variationen rufen alle möglichen Gefühle, Gedanken und Ahnungen hervor. Dabei handelt es sich doch nur um physikalische und neurobiologische Vorgänge: Sinnlich wahrnehmbare Schwingungen finden Resonanz in den verschiedensten Teilen des Gehirns. Der Hirnstamm reagiert unmittelbar und unbewusst auf Rhythmen und Töne; das subkortikale limbische System , in dem die Gefühle wohnen, wird angeregt, insbesondere das mesolimbische System, das »Glückshormone« ausschüttet, ferner das kortikale Bewusstsein , das frühere Erfahrungen und Situationen wieder ins Gedächtnis ruft und mit Spiegelneuronen Einfühlung und Mitgefühl weckt. Mit Melodien lebt eher die rechte Hirnhälfte auf, mit Rhythmen eher die linke. Davon, dass schon Kinder und Jugendliche sich von Musik in ihrem ganzen Menschsein angesprochen fühlen und mit ihrer Hilfe zu sich und zur Gemeinschaft finden, zeugt das Projekt Rhythm is it der Berliner Philharmoniker, dirigiert von Simon Rattle, 2004 filmisch dokumentiert.
Jedem Interpreten ist es ein Anliegen, die Sinnfülle erlebbar zu machen, und so perlt die Kette der Töne im Impromptu As-Dur von Franz Schubert ganz aus sich selbst heraus, angetrieben von einer inneren Dynamik, zu deren ausführendem Organ sich der Pianist macht: Er wolle »nicht die Noten spielen, sondern deren Sinn«, sagte Alfred Brendel 2001 in einem Gespräch. Nie endender Sinn ergibt sich noch dazu aus der Fülle möglicher Deutungen: Der Grundsatz der hermeneutischen Fülle , wonach das Spektrum der Interpretationen nie zu erschöpfen ist, gewinnt in der Musik hörbare Evidenz.
Kompositionen und Interpretationen machen die unerschöpflichen Energien, die wohl das Wesentliche aller Wirklichkeit und Körperlichkeit sind, hörbar, fühlbar und denkbar. Die Musik besteht aus Tönen, die »mit Kräften ohne Körper unser Herz umfließen«, sodass es möglich wird, dass die Seele »sichselber zuhört« (Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein , 1796, Ausgabe 1972, 230). Das tiefste Innere des Menschen, vorstellbar als ein Raum, in dem das persönliche Dasein in ein universelles Sein übergeht, beginnt zu vibrieren. Alle Fasern und Facetten des Inneren schwingen mit, wenn äußere Schwingungen Musik erzeugen, in denen vielleicht die energetischen Strings, die dem Universum zugrundeliegen könnten, zum Klang werden. Ein weltlicher Eindruck von Unendlichkeit entsteht, der für viele Menschen zur religiösen Erfahrung wird.
Mit der Liebe zur Sprache und zur Literatur wiederum lassen sich Hörsinn, Sehsinn und ein Maximum an seelischem und geistigem Sinn aktivieren. Mit bloßem Vorstellungsvermögen kann ein Mensch Sinn aus dem Klangmuster und Schriftbild von Wörtern und Sätzen, aus ihrer syntaktischen Zusammenstellung und semantischen Bedeutung im Kontext eines Textes erschließen. Jede Liebe zu einer bestimmten Sprache eröffnet ihm Zugang zu einer ganzen Welt und stärkt zugleich seine Liebe zu sich, da er mit dem Reichtum einer Sprache zu einer reicheren Wahrnehmung und Gestaltung seiner selbst und seines Lebens in der Lage ist.
Niedergelegt in Schriften, wird Sprache zur Literatur, die nicht nur alle Aspekte einer Wirklichkeit beschreibt, sondern auch alle denkbaren Möglichkeiten entwirft. Bereits der junge Leser entdeckt die Faszination der Lektüre, die ihm ermöglicht, »einzutauchen« in andere Welten und selbst ein Anderer zu werden. Anders als der Kritiker, der Distanz gewinnen muss, um ein Buch beurteilen zu können, kann der Genussleser sich hingeben und gerade dadurch eine leidenschaftliche Hingabe auch von Seiten des Buches erfahren (Martin Duda, Das Glück, das aus den Büchern kommt: Lesekunst als Lebenskunst , 2008). Liebender und Geliebter zugleich kann der Lesersein, das Resultat können Neurobiologen messen: Neuronen und Synapsen werden gebildet und eröffnen neue Fühl- und Denkmöglichkeiten. Neuer Sinn mit der größtmöglichen Vielfalt an seelisch-geistigen Zusammenhängen entsteht selbstredend eher beim tiefen Eintauchen in den Text ( deep reading )
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