Dem Leben Sinn geben
Künstlern, Genialität zugesprochen, und dass sie eine ebenso große Bewunderung wie Zurückweisung erfahren können, prägte schon die Biographie Galileo Galileis.
Eine Sonderstellung in der Liebe zu Wissenschaften nimmt die Medizin ein: Von ihren Forschungen und von ihrer Fähigkeit zu deren Umsetzung in ärztliche Kunst hängen sehr direkt Menschenleben ab; geliebt und bewundert wird sie daher von Nichtmedizinern, wenn sie erfolgreich heilen kann. Eine Sonderrolle weisen viele außerdem der Liebe zur Weisheit (griechisch philosophia ) zu, von der sie sich seelisch-geistiges Heil erhoffen. Von alters her ist sie das Verlangen danach, dem Wesentlichen, dem Sinn auf die Spur zu kommen, daher die immer neue Besinnung , das Innehalten und Nachdenken, um zu fragen: Was ist dies und jenes eigentlich, was steckt dahinter, was liegt zugrunde, worauf kommt es an? Schritte auf dem Weg zur Weisheit sind das genaue Hinsehen, das Beschreiben von Phänomenen, wie sie wahrnehmbar sind, die Aufmerksamkeit auf Begriffe, die dabei verwendet werden, der Blick fürs Ganze, in das jedes Einzelne eingebettet ist, das Abwägen von Gründen für und gegen ein Tun und Lassen im Umgang damit. Das Philosophieren ist letztlich ein Bemühen um das Wissen, wie das Leben geführt werden kann. Die Philosophie der Lebenskunst versucht das Handwerkszeug dafür bereitzustellen, das jedoch eigene Überlegungen nicht ersetzen kann.
Was sich aufgrund der Besinnung als wichtig und richtig herauskristallisiert, trägt zur Orientierung bei, um den eigenen Weg zu finden und dabei Umwege und Wagnisse nicht zu scheuen, in der Gegenwart zu leben und zugleich ein wenig über den Dingen zu stehen, vielleicht sogar weit darüber hinauszusehen. Der Mensch, der weiser werden will, versucht sich vom schmückenden und störenden Beiwerk der Dinge nicht blenden zu lassen und von vorschnellen Bewertungen abzusehen. Mit aufgeklärter Bewusstheit ist ihm eine abgeklärte, amoralische Sichtweise beim Umgang mit sich, mit Anderen und aller Welt eigen. Nichts Menschliches ist ihm fremd, insbesondere nicht die Irrtumsanfälligkeit, Widersprüchlichkeit und Unbeständigkeit des menschlichen Lebens. Bei allem Wissen weiß er um die Begrenztheit des Wissens und begnügt sich anstelle von letztgültiger Erkenntnis und Selbsterkenntnis mit provisorischen Kenntnissen. Mangelt es ihm daran, weiß er, wo und wie er sie erlangen kann. In Kenntnis größerer Zusammenhänge und kleinerer Details versucht er immer von Neuem, das Maß seiner Freiheit abzuschätzen: Wo habe ich eine Wahl,wo nicht? Was kann ich ändern, was nicht? Um dort aktiv zu werden, wo es möglich erscheint, und es dort zu lassen, wo es unmöglich erscheint. Im Meer aller Ungewissheiten von Leben und Welt richtet er sich trotz allem ein Leben auf einer Insel relativer Gewissheiten ein.
Der Lohn der Bemühungen um Weisheit ist eine größere Freimütigkeit des Denkens und Sagens, Tuns und Lassens, verbunden mit mehr Gelassenheit und Heiterkeit . Die Weisheit profitiert von Erfahrungen, vor allem von schlechten Erfahrungen, von Unbedachtheiten und Dummheiten, die dennoch wertvoll sind, um mithilfe von Besinnung Schlüsse daraus zu ziehen: So entsteht das Gespür , das zur Grundlage der bewussten Lebensführung wird, die nicht immer nur auf Bewusstheit beruhen kann. Fraglos ist die Weisheit eine Angelegenheit des Älterwerdens, junge Menschen können gut auf sie verzichten: Ein wenig jugendliche Klugheit, Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht reicht völlig aus, um schwierige Situationen zu bewältigen, die nicht immer tiefer Einsichten bedürfen. Dummheiten, die sie machen, stehen sie mehr oder weniger mühelos durch, und einige Zeit können sie es sich leisten, nichts daraus zu lernen. Irgendwann fehlt dann jedoch zur Dummheit die Kraft: So kommen Menschen zur Weisheit.
Die Fülle der Einsichten, die im Laufe langer Zeiten auf diese Weise entstanden sind, wurden in Lebensregeln, Lebenslehren, Sprichwörtern, Mythen und Märchen niedergelegt, die den Einen überaus liebenswert erscheinen, Anderen verhasst sind. In der Tat ist das Erfahrungswissen, wie jedes Wissen, irrtumsanfällig: Niemand kann alle Erfahrungen vorwegnehmen und Schlüsse aus bisherigen Erfahrungen können fehlerhaft sein. Wirkliche Weisheit weiß auch noch um die Dummheit, die ihr eigen sein kann.
Eine tief in der Geschichte der Kultur verankerte Leidenschaft ist schließlich die Liebe zur Religion . Lange in der Menschheitsgeschichte
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