Dem Leben Sinn geben

repräsentierten Religionen die Königsdisziplin der Sinngebung: Sie fungierten als Sinnpool . Auch zahllose Kunstwerke verdanken sich diesem Impuls des Denkens und Fühlens über die menschliche Endlichkeit und Wirklichkeit hinaus, bei dem ein transzendenter Sinn gewiss erscheint. In moderner Zeit scheiden sich hier jedoch die Geister: Viele lehnen jede Art von Religion mit Vehemenz ab. Religion muss aber keineswegs auf dem Glauben an eine jenseitige Transzendenz beruhen, religiös kann auch das Wissen von kosmischen Zusammenhängen sein, die die Existenz des Menschen unendlich überschreiten. Ebenso können die Kulturleistungen von Religionen bewundert werden, wenngleich ihnen unentschuldbare Kulturzerstörungen gegenüberstehen, die die bange Frage aufwerfen, ob die destruktiven Kräfte, die von Religion freigesetzt werden, die konstruktiven überwiegen. Selbst beim Blick über lange Zeiten ist das nicht klar zu beantworten.
    Auch abseits fragwürdiger Seiten der Religion ist jedoch jede schöpferische Kunst und Kultur mit Kulturzerstörung in beliebigen Größenordnungen konfrontiert. Die Liebe mancher Menschen kann sogar der Zerstörung selbst gelten, das zeigt sich am deutlichsten in der Liebe zum Krieg (James Hillman, Die erschreckende Liebe zum Krieg , 2005). In seinem Kriegstagebuch der Jahre 1914-1918 hielt der Schriftsteller Ernst Jünger fest, wie wenig ihn der Tod Anderer und der jederzeit mögliche eigene Tod berührte, während er sich vom Blick in die Abgründe der menschlichen Existenz unwiderstehlich angezogen fühlte. Sinn bezog er aus der Konfrontation mit der Sinnlosigkeit, und gerade unter Lebensgefahr machte er die Erfahrunghöchster Lebenssteigerung. Immerhin führte ihn die Befriedigung seiner wilden Abenteuerlust zur Einsicht: »Der Mensch ist unberechenbar. Im Umgange mit ihm muss man auf Alles gefasst sein« ( sic! , Edition 2010, 432). Sollte das destruktive Potenzial im Menschen aber nie gänzlich zu destruieren sein, ist das ein Grund für ständige Wachsamkeit sowie dafür, das produktive Potenzial der Künste und aller Kultur stärker zu nutzen und weiterzugeben. Hatte die Entwicklung von Kunst und Kultur nicht immer schon ihren Sinn darin gefunden, die Liebe zur Zerstörung einzudämmen und umzupolen?
    Alle Kunst und Kultur setzt schreibende, rechnende, fragende, forschende, kommunizierende, fabrizierende, malende, spielende Menschen voraus. Sich in die entsprechenden Künste und Wissenschaften einzuüben und sie weiterzugeben, ist auf eine Liebe zur Bildung und Weiterbildung angewiesen – nicht nur bei denen, die lernen , sondern mehr noch bei denen, die lehren , denn deren Liebe kann ansteckend sein. Ziel ist die Befähigung zur Besinnung, um sich und Andere, das eigene Leben und das Leben mit Anderen besser verstehen und gestalten zu können, wo immer es möglich ist.
    Kunst und Kultur ist jedes menschliche Werk, das zur Sicherung, Gestaltung und Sinngebung der menschlichen Existenz beiträgt. Dazu gehören auch Bereiche, die nicht immer die nötige Aufmerksamkeit erfahren, wie etwa der Bereich der Pflege , der Sorge für Andere, die unzureichend für sich selbst sorgen können. Eine Kulturarbeit wird auch im Bereich der Wirtschaft geleistet, der darauf ausgerichtet ist, Güter zu produzieren, mit denen Menschen ihr Leben bewältigen und gestalten können. Manche Unternehmer sehen sich selbst als Künstler, die mit Organisationskunst kreative Ideen zu realen Dingen machen, dafür aber auf die Mitarbeit Anderer angewiesen sind.
    Im Hintergrund bleiben viele, die ohne Erwerbsarbeit wichtigen Arbeiten nachgehen, der Familienarbeit beispielsweise. Auch Staatskunst und Rechtskultur zählen zu Kunst und Kultur, wenngleich sie oft nur von denen geliebt werden, die sich professionell darum kümmern, während Andere eher eine funktionale Beziehung dazu unterhalten. Kunst und Kultur im weiteren Sinne ist überhaupt alles, was Menschen bearbeiten und dadurch kultivieren. Viele weitere mögliche Lieben kommen damit in den Blick, die in einer umfassenden Kunst des Liebens ihren Platz haben und auf je eigene Weise dem Leben Sinn geben können.
Die Liebe zum Essen und Trinken, zu Sport, Spiel und Technik
    Wenn der Begriff der Kunst in Anlehnung an die antike griechische techne weiter gefasst wird, können sehr viele Künste und auch Techniken geliebt werden: Alltags- und Gebrauchskünste, Künste des Feierns, gekonnte Ausübungen bestimmter Tätigkeiten in Sport und Spiel, Handwerks- und