Dem Leben Sinn geben
unterworfen ist: Etwa dass es Polarität und den unaufhebbaren Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit gibt, sodass er von Möglichkeiten träumen kann, für die die jeweilige Wirklichkeit jedoch nicht beliebig viel Platz hat, bis letztlich eine bestimmte Wirklichkeit unumkehrbar zum eigenen Leben wird – all das ist schicksalhaft.
Umstandslos alles als schicksalhaft zu akzeptieren, sich blind der Macht des Schicksals zu unterwerfen, wäre Fatalismus , der lange Zeit religiös vorgegeben war. Die Zeit der Moderne verstand sich als Befreiung von einer solchen Haltung und begründete einen regelrechten Anti-Fatalismus , einen rigorosen Glauben an kein Schicksal, sodass »Schicksal« kein Begriff der Moderne mehr sein konnte: Es sollte überwunden werden, nichts mehr sollte unabänderlich sein, alles der wissenschaftlichen Aufklärung und technischen Machbarkeit unterliegen.
Das zog schicksalhafte Konsequenzen für die Gesellschaft und den Einzelnen nach sich, da fortan nichts mehr akzeptiert werden konnte: Der Körper war mit Hormonen, Steroiden und Operationen nach Wunsch zu formen, die Seele mit Stimmungsaufhellern in gute Schwingungen zu versetzen, geistig waren mit Positivdenken negative Verhältnisse zu überwinden. Es war schicksalhaft, Kinder zu bekommen? Eine Pille konnte Abhilfe schaffen. Es war schicksalhaft, keine zu bekommen? Auch das konnte hormonell beeinflusst werden. Das Schicksal der Geburt hatte es gewollt, dass die Hautfarbe hell ist? Sie konnte gebräunt werden. Sie war dunkel? Sie konnte gebleicht werden. Die Schwerkraft hatte die Menschen schicksalhaft an ihren Planeten gefesselt? Der konnte mit Raketen verlassen werden.
Und dennoch lässt sich das Schicksal nicht restlos ausschalten: Weiterhin ist nicht zu verhindern, dass ungewollt Unfälle geschehen und der Mensch mit seinen Techniken selbst »Schicksal spielt«, etwa wenn gewollte Eingriffe misslingen und nicht mehr revidierbar sind. Die Frage nach der eigenen Verantwortung für das Schicksal stellt sich auf Schritt und Tritt, wenn auch nur ein Spalt der Freiheit offen steht: Ständig habeich die Wahl, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, dieses oder jenes Produkt zu kaufen, stets mit potenziell weit reichenden Folgen für mein Leben wie für das Leben Anderer. Schicksalhaft ist die Wahl, mit diesem oder jenem Menschen durchs Leben zu gehen, Kinder zu bekommen oder nicht, nach beginnender Schwangerschaft deren genetische Ausstattung zu testen oder nicht, vor dem Beginn eine Prä-Implantations-Diagnostik (PID) künstlich befruchteter Zellen vornehmen zu lassen oder nicht.
Jedes Tun wirkt sich so schicksalhaft aus wie jedes Lassen, und dies bei weitem nicht nur bei Medizintechniken: Jeder kann jederzeit ein verhängnisvolles Geschehen verursachen, sodass es zu einer Inflationierung möglicher Schuld kommt, die keiner jenseitigen Instanz mehr zugeschoben werden kann. Und eine endlose Unruhe gilt bei alldem der Frage, ob es wirklich eine freie Wahl gibt: Von maximaler Freiheit auszugehen und für alles Verantwortung zu übernehmen, würde jeden überfordern. Keinerlei Freiheit anzunehmen und jede Verantwortung zu leugnen, würde der Willkür Tür und Tor öffnen.
Die Liebe zum Leben, die Befreundung und Kooperation mit ihm braucht ein Einverständnis mit seinen schicksalhaften Bedingungen. Am entschiedensten geschieht dies in der Hingabe an das Leben, an all seine Seiten, mit einer leidenschaftlichen Zuwendung und Zuneigung, die auch noch das Einverständnis mit der Unlösbarkeit des Rätsels umfasst, was wirklich als Schicksal gelten kann und was nicht. Unweigerlich muss ein Mensch mit der Hingabe auch zur Hinnahme bereit sein, die gerade in den Zeiten am schwersten fällt, in denen sie am nötigsten wäre, nämlich wenn negative Erfahrungen hinzunehmen sind, die das Leben sinnlos, bedeutungslos, nicht mehr lebenswert erscheinen lassen. Modernen Menschen liegtes dann nahe zu fragen, ob das Leben gerecht sei. Nach der Befreiung von der vormodernen Theodizee , dieser Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, wird die Leerstelle von der Biodizee ausgefüllt, der Frage nach der Gerechtigkeit des Lebens, um aus dem vermeintlichen Mangel daran einen neuen Vorwurf zu stricken: »Das Leben meint es nicht gut mit mir.«
Leichter fällt die Hinnahme des Unguten mit der Überlegung, ob es denn fair gegenüber dem Leben ist, nur seine positiven Seiten zu akzeptieren, die negativen aber abzuweisen. In Beziehungen zwischen Menschen wie auch zwischen
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