Dem Leben Sinn geben
anderen Seite ist eine kämpferische Auseinandersetzung mit dem Leben möglich, bei der es als Gegner oder gar Feind des Menschen in Erscheinung tritt: Eine negativ gewendete, erneut jedoch sehr leidenschaftliche Beziehung kommt so zustande. Zur Ablehnung und Zurückweisung des Lebens führt nur die unnachsichtige, ausschließende Beziehung , die einen Selbstausschluss aus dem Leben zur Folge hat, sei es ohne Mut zu den Konsequenzen wie bei Schopenhauer oder mit beträchtlichem Mut dazu wie bei Kleist und seiner Gefährtin.
Viele Menschen wählen in moderner Zeit allerdings, eher unbedacht als überlegt, die am wenigsten befriedigende funktionale Beziehung . Wie einem technischen Ding verlangen siedem Leben ein reibungsloses Funktionieren ab: Es soll »etwas bringen«, ungetrübtes Glück, Erfolg, Gesundheit, Zufriedenheit, ewige Jugend. Demgegenüber sollen Unglück, Misserfolg, Krankheit, Älterwerden und Tod abgeschafft werden, die den Anspruch auf Autonomie beleidigen (Norberto Bobbio, Vom Alter , 2004), und ein Leben, das »nichts mehr bringt«, lohnt sich nicht mehr. Der funktionale Mensch verschwendet keinen Gedanken darauf, dem Leben seinerseits etwas zu bringen, etwa den Mut, Schwierigkeiten durchzustehen, sich nicht ständig über Widrigkeiten zu beklagen, stattdessen ungewöhnliche Möglichkeiten zu verwirklichen, die der weiteren Entwicklung des Lebens förderlich sein könnten. Das Leben scheint sich für die Verweigerung zu rächen, indem es den Eindruck im Menschen hervorruft, nicht wirklich zu leben. Zynismus macht sich in ihm breit, eine Art von vorweggenommenem Tod.
Manche testen auch, ob eine virtuelle Beziehung zum Leben möglich ist, um ganz auf der Ebene des Denkens und Träumens zu verbleiben, ein Leben nur in Möglichkeiten, ohne sich je auf eine Wirklichkeit einzulassen. Vor allem der elektronisch-virtuelle Raum eröffnet beliebige Möglichkeiten, mit aller Welt online zusammen zu sein und Distanz zur Wirklichkeit offline aufrechtzuerhalten. Um die Erfahrung zu machen, dass in diesem Raum nicht allen realen Bedürfnissen von Körper und Seele zufriedenstellend nachgegangen werden kann.
Die Beziehung zum Leben, die ein Mensch wählt, hat zweifellos mit dem Temperament zu tun, das ihm von Natur aus eigen ist, mit den Erfahrungen , die er in seiner sozialen und kulturellen Umgebung macht, vor allem aber mit den Deutungen , die er selbst vornimmt: Was verstehe ich unter Leben, was habe ich bisher erlebt, was will ich noch erleben, was ist mir wichtig,was halte ich für richtig, was ist in meinen Augen schön und somit besonders wertvoll? Sehr viel ist abhängig vom Begriff des Lebens , in dem alle Erfahrungen und Deutungen, Wünsche und Träume gebündelt werden und lebhaft mitschwingen, wenn ein Mensch vom Leben spricht ( Induktion ). Unbemerkt kehrt der Prozess sich dann um und derselbe Mensch beginnt, aus dem Begriff des Lebens, den er sich zurechtgemacht hat, die Deutung seiner Erfahrungen abzuleiten ( Deduktion ): Am Begriff gemessen, beurteilt er sein Leben als befriedigend oder unbefriedigend. Hält er es für unbefriedigend, ist er versucht, dies nicht seinem Begriff anzulasten, sondern dem Leben selbst: Es ist nicht so, wie er es sich vorgestellt hat – umso schlimmer für das Leben!
Hat er sich das Leben als Orgie vorgestellt, die abzufeiern ist, kann die Tristesse, die sich trotz allem immer wieder einstellt, in seinen Augen kein Leben sein. Besteht das Leben für ihn nur darin, eine Aufgabe zu erfüllen, kommt ihm mit deren Erfüllung das Leben abhanden – mit der Nichterfüllung aber auch. Heißt Leben für ihn, für Andere da zu sein, verliert er vielleicht das Lebenkönnen mit sich selbst, in der Folge aber auch das Daseinkönnen für Andere. Versteht er unter Leben, sein Ich allein zu behaupten, erscheint ihm das Leben mit Anderen nachrangig – und irgendwann das eigene Leben sinnlos. Erwartet er vom Leben durchgängig nur Freude , fällt schon das kleinste Leid ins Gewicht und lässt das Leben unerträglich erscheinen. Erscheint ihm das Leben vor allem als Leid , gewinnt jede noch so kleine Freude eine überwältigend große Bedeutung.
Es müsste möglich sein, einen Begriff des Lebens zu bilden, in dem die unterschiedlichsten Erfahrungen Platz finden können, das Abfeiern einer Orgie ebenso wie die Erfüllungeiner Aufgabe, das Dasein für Andere wie für sich selbst, die Freude wie auch das Leid, wenngleich nicht immer alles zur selben Zeit. Das könnte der Begriff des
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