Dem Leben Sinn geben
ihr Leben zu verraten, sondern mit ihm zu kommen, denn »es gibt Augenblicke, in denen man zu wählen hat, entweder voll und ganz sein eigenes Leben zu leben – oder sich mit einer falschen, oberflächlichen, entwürdigenden Existenz abzuschleppen« (Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer , Zweiter Akt). Da ist sie plötzlich zum ontologischen Sprung in die Möglichkeit bereit, die Liebe gibt ihrdie Kraft dazu, eine zweifache Liebe: Die Liebe des Anderen , der sie ermutigt, und ihre Selbstliebe , die durch die Liebe des Anderen wach wird. Die Aussicht auf ein Leben, das schöner und bejahenswerter ist, macht jeder Gleichgültigkeit gegen sich und das eigene Leben ein Ende.
Oscar Wildes Theaterstück, 1892 in London uraufgeführt, erscheint wie eine Vorahnung der fortschreitenden Moderne, die nicht etwa nur bei versprengten Einzelnen, sondern bei einer wachsenden Zahl von Menschen in ungewöhnlichem Maße den Mut zum Leben schwinden lässt: Viele fühlen sich nicht mehr geborgen in einer Religion, in althergebrachten Traditionen und verlässlichen Konventionen. Sobald aber das Leben sich nicht mehr von selbst versteht, beginnt die Ungewissheit jede Gewissheit zu untergraben. Dass es an Mut fehlt, geschieht immer wieder phasenweise im menschlichen Leben, nun aber wird das Leben vieler vom Mangel daran dauerhaft überschattet. Darauf reagierte der Theologe Paul Tillich mit seinem Buch Der Mut zum Sein (1952, deutsche Ausgabe 1953), mit dem er Mut machen wollte zu einem Dasein, das sich der Wirklichkeit stellt, wie sie gegenwärtig ist und nicht zu ändern ist, jedenfalls nicht jetzt; Mut aber auch dazu, sich für das eigentliche Sein zu öffnen, für die Möglichkeiten, die über jede Wirklichkeit hinausreichen und alles Dasein in sich bergen.
Verzagtheit erfordert keine Kraft und setzt auch keine frei, Mut hingegen ist energetisch aufwändig, bevor er selbst zur Energiequelle wird. Und woher soll die anfängliche Energie kommen? Aus dem Sinn , der immer dann zutage tritt, wenn Zusammenhänge erfahrbar werden. Wo Sinn zu finden ist, werden Energien frei, und umgekehrt: Wo es gelingt, ein Potenzial an Energie zu erschließen, entsteht eine Erfahrung von Sinn. Neuer Mut zum Leben überkommt Menschen, sobaldihnen das sinnlos gewordene Leben wieder voller Sinn, voller Möglichkeiten, voller Energie erscheint. Zweifellos fällt das Ja zum Leben und zum Schicksal leichter, wenn Sinn darin gesehen werden kann – aber die Voraussetzung dafür ist wiederum das Ja. Einen zwingenden Grund für dieses Ja gibt es nicht. Es als zwingend zu proklamieren, verursacht nicht von ungefähr ein Unbehagen: Im Leben kommt es darauf an, nicht immer zu allem nur Ja zu sagen wie die Duchess of Berwick in Oscar Wildes Stück. Nur dort, wo ein Nein möglich ist, wird ein Ja glaubwürdig. Das Neinsagenkönnen verleiht einem Ja erst seinen Wert. Wo, wann, gegenüber wem und unter welchen Umständen ein Ja oder Nein angebracht ist, ist eine Frage der Erfahrung und Besinnung, des wachsenden Gespürs, auf dessen Grundlage treffsicher zu wählen ist. Ein Ja eröffnet Möglichkeiten, ein Nein verschließt sie, seltener ist es umgekehrt, und das gilt auch für die Haltung zum Leben. Dennoch ist dessen Bejahung keine Notwendigkeit, sondern ein Akt der Freiheit, der erst vor dem Hintergrund der ebenso gut möglichen Verneinung Gewicht erhält.
Ein Grund dafür, das Leben nicht bejahen zu können, kann die Omnipräsenz des Negativen in seinen vielfachen Erscheinungsformen und vor allem die »unzumutbare« Tatsache des Todes sein (Martin Neuffer, Nein zum Leben , 1992, 34). Steht aus diesem Grund die Sinnleere und Bedeutungslosigkeit des Lebens von vornherein zweifelsfrei fest, sind Resignation und Verzweiflung nicht fern, sei es mit tragischen Zügen wie bei Arthur Schopenhauer oder mit komischen Zügen wie bei Woody Allen. Melinda und Melinda , das sind eigentlich Arthur und Woody . Ein Kontrastprogramm dazu wäre, die Frage nach dem Sinn offenzuhalten und nicht mit letzten Antworten zu verschließen. Gerade dann kommt eine mögliche Fülle des Sinnsund Bedeutungsfülle des Lebens in den Blick, die dazu ermutigt, allen Widerfahrnissen des Lebens mit vertrauensvoller Hingabe oder gleichmütiger Gelassenheit zu begegnen.
Die Frage nach dem Sinn und die möglichen Antworten darauf
In welchem Umfang die Sinnfrage virulent wird, wenn alte Sinngewissheiten zerbrechen, war kaum jemandem so früh so klar wie Nietzsche. Im Sommer 1887 zieht er sich für ein
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