Dem Leben Sinn geben
paar Tage an einen damals abgelegenen Ort bei Chur in der Schweiz zurück, nach dem die Aufzeichnungen benannt sind, die er dort macht: Lenzerheide-Fragment (KSA 12, 211-217). Ihn beunruhigt die Sinnlosigkeit, die entsteht, wenn »der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist«. Dass Sinn sich auflöst, ist eigentlich kein ungewöhnlicher Vorgang, sondern eine gewöhnliche Folge hermeneutischer Veränderungen, wie sie gelegentlich vorkommen: » Eine Interpretation gieng zu Grunde« ( sic! ). Ein größeres Problem ist in diesem Fall jedoch, dass diejenigen, die an Gott glaubten, eine Sinnfülle mit ihm in Verbindung brachten, die nicht als Interpretation, sondern als letzte Wahrheit erschien. Infolgedessen entsteht nun der Eindruck, »als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei«.
Mit neuen Interpretationen wäre neuer Sinn zu gewinnen, aber es fehlen, stellt Nietzsche auf dem Weg nach Lenzerheide fest, »die neuen interpretativen Kräfte«. Gäbe es sie, würde er ihnen raten, nicht von einer Gewissheit des Sinns, sondern vom Gedanken der Sinnlosigkeit »in seiner furchtbarsten Form« auszugehen, »das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale insNichts«. Dann würde sich die ernste Frage stellen, »bejahen wir trotzdem den Prozess?« Eine solche Bejahung hatte Nietzsche selbst Jahre zuvor vorgeschlagen, um dem sinnlos gewordenen Leben neuen Sinn zu geben: Wenn ewig wiederkehren würde, was jetzt geschieht – wäre das nicht ein Ansporn dazu, das Leben so zu gestalten, dass der Wunsch entstünde, es möge ewig so wiederkehren? Mit der Akzeptanz einer möglichen grundlegenden Sinnlosigkeit könnte dann eine neue Arbeit am Sinn unternommen werden: »Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben«.
Die extremen Glaubenssätze in Sinnfragen, die hier überwunden werden sollen, sind seit langer Zeit bekannt: Alles hat einen Sinn , sagen die Einen, wenngleich das niemand wirklich wissen kann. Ein Sinn, also ein Zusammenhang, eine Beziehung, ein Aufeinanderbezogensein des Auseinanderliegenden (Paul Tiedemann, Über den Sinn des Lebens , 1993, 4 f.) wird dabei aus heiligen Texten erschlossen oder mangels anderer Deutungsmethoden aus Karten ersehen, aus Händen gelesen, aus Sternkonstellationen abgeleitet. Nichts ist dann noch Zufall, alles vorherbestimmt, erst recht das Los »sterndurchquerter Liebender« ( star-crossed lovers ), von denen Shakespeare im Prolog zu Romeo und Julia spricht, um eine kosmische Macht gerade dort ins Spiel zu bringen, wo das Schicksal menschengemacht sein könnte.
Andere glauben ganz im Gegenteil an ein sinnloses Walten ohne jeden Autor, der das Drehbuch zu dem Film »Das Leben und die Liebe« schreiben könnte: Da ist kein Sinn , wenngleich das kein Mensch objektiv und definitiv wissen kann. Dem Glauben an den Sinn des Lebens steht der »Glaube an das Absurde« gegenüber, dem Albert Camus anhing, seine Antwort auf »die dringlichste aller Fragen« ( Der Mythos des Sisyphos , 1965, deutsche Ausgabe 2000, 16 und 73). Und doch kann auch das Absurde zu einem möglichen Sinn des Lebens beitragen, denn das Leben lebt von Möglichkeiten: Alle sind nötig, um die eine zu finden, die weiterführt, und das Absurde erweitert das Spektrum der Möglichkeiten bis ins schier Unmögliche.
Offen bleibt die Frage, warum Menschen überhaupt auf die Idee kommen, die Sinnfrage mit einer letzten Wahrheit zu beantworten, zu der die Einen gekommen und von der die Anderen abgekommen sind: Wer verfügt über den Maßstab für die zweifelsfreie Erkenntnis, wie etwas letztlich »ist« oder »nicht ist«? Wenn es wahr ist, dass Sinn-Zusammenhänge grundsätzlich aus Deutungen und Interpretationen hervorgehen, die sich im Laufe der Zeit wandeln, dann kann der Sinn immer nur eine subjektive und provisorische Lebenswahrheit sein, deren Tragfähigkeit sich im wirklichen Leben erst noch erweisen muss.
Die Vielzahl möglicher Deutungen vermittelt einen Eindruck vom Umfang einer mutmaßlichen Wahrheit. Jede Deutung aber erfordert einen Aufwand an Kraft. Und wenn einem Menschen bei völliger Entkräftung keine Deutung mehr möglich ist? Dann hängt für ihn alles davon ab, irgendwie wieder zu Kräften zu kommen, etwa durch eine Stärkung seiner
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