Dem Leben Sinn geben
recht gedieh. Religiöse und weltliche, familiäre und fürstliche Autoritäten erlegten dem Menschen Pflichten fürs Leben auf, die er zu erfüllen hatte, denen er aber auch das Gefühl verdankte, einen Platz im Leben zu haben und gebraucht zu werden. Er konnte jederzeit wissen, was zu tun und zu lassen ist und sich eingebettet fühlen in den von Gott und Natur in Gang gesetzten Kreislauf des Werdens und Vergehens, der sein gesamtes eigenes Leben umschloss.
Nach der Befreiung von diesen Vorgaben muss in moderner Zeit jeder Einzelne selbst seine Beziehung zum Leben finden und festlegen. Eine Option dafür ist die bejahende Beziehung . Sie ermöglicht eine Beziehung der Liebe, Freundschaft oder wenigstens der Kooperation mit dem Leben und verringert die Lebensangst eines Menschen. Eine begeisterte Bejahung führte die Romantikerin Bettine Brentano (von Arnim) vor, die ihre Auffassung vom Leben in Briefromanen formulierte. An der Bedeutungsfülle des Lebens zweifelte sie nicht, es erschien ihr als »ein groß Geheimnis« ( sic! , Die Günderode , 1840, Ausgabe 1983, 96). Ganz anders Friedrich Nietzsche, der zunächst glaubte, sich von der Gewissheit eines vorbestimmten Lebenssinns befreien zu müssen, aber bald darüber erschrak, wie bedeutungslos das Leben dann wird, sodass er ihm mit euphorischer Bejahung neue Bedeutung zu verleihen versuchte: 1882 komponierte er zu einem Text der verehrten Lou von Salomé den Hymnus auf das Leben für Chor und Orchester (überarbeitet und publiziert 1887), in dem er sein Vermächtnis sieht, »das jasagende Pathos par excellence«, mit den Worten: »Hast du kein Glück mehr übrig mir zu geben, wohlan! noch hast du deine Pein … « ( Ecce Homo , »Also sprach Zarathustra«, 1).
Eine andere Option ist die verneinende Beziehung , die mit einer kämpferischen Auseinandersetzung mit dem Leben einhergehen kann, auch mit einer ablehnenden Haltung gegen das Leben, gegen Erfahrungen und Herausforderungen, bis hin zum Selbstausschluss aus dem Leben. Auch diese Beziehung wird vom Beginn der Moderne an erprobt: Arthur Schopenhauer unternahm dies theoretisch mit der Verneinung des Willens zum Leben, um dem sinnlosen Leiden, in dem er die Essenz des Lebens sah, ein Ende zu setzen. Unter der Verneinung verstand er allerdings keine Selbsttötung, wie bedauerlicherweise viele meinen, sondern eine Verweigerung der Fortpflanzung – ein altes christliches Motiv und ein Weg, der Schopenhauers Kräfte überforderte, zwei uneheliche Töchter zeugen davon, ein Fanal der Moderne: Die Weitergabe des Lebens geschieht nicht mehr aus Liebe zum Leben, die den Wunsch nach Weitergabe gebiert, sondern nur noch aus Versehen; in diesem Sinne ist ein Teil der modernen Kultur keine Kultur des Lebens mehr.
Eine praktische Verneinung des Lebens hingegen realisierte Heinrich von Kleist, als er sich und seiner Gefährtin Henriette Vogel 1811 am Kleinen Wannsee in Berlin im Alter von 34 Jahren das Leben nahm. Er, dem »auf Erden nicht zu helfen« war, zeigte sich im Abschiedsbrief angesichts des Todes erfüllt von »Freude und unaussprechlicher Heiterkeit«, versöhnt mit aller Welt. »Nun, o Unsterblichkeit, bist Du ganz mein«, heißt es, mit einem Zitat aus seinem Drama Prinz Friedrich von Homburg , auf dem Grabstein (seit 2011 auf dessen Rückseite) am Ort des Geschehens.
Die moderne Zeit kennt keine Norm mehr, das Leben lebenzu müssen, nur noch die Option , es leben zu können – oder sich ihm zu verweigern. Die ganze Skala zwischen bejahender Zuwendung und Zuneigung sowie verneinender Abwendung und Abneigung steht somit offen: Auf der einen Seite die hingebungsvolle Liebe zum Leben, wie Bettine Brentano sie mit größter Selbstverständlichkeit lebt, während Nietzsche um diese Liebe kämpfen muss, die er gleichwohl für erstrebenswert hält, um dem Leben Sinn geben zu können. Zwar kann er die Liebe zum Leben nicht einfach von irgendwoher »abrufen«, aber mit der Entscheidung zur Bejahung des Lebens erhöht er die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie sich einstellt. Denkbar ist ebenso die Befreundung mit dem Leben, die eine bereitwillige Akzeptanz seiner Eigenarten, manchmal auch eine kritische Sicht auf das Leben möglich macht und ein Atmen zwischen Nähe und Distanz erlaubt. Für eine Beziehung der Kooperation wiederum genügt es, das Leben einfach nur zu mögen und gerne dazu bereit zu sein, die Arbeiten zu leisten, die es abverlangt; das alltägliche Leben lässt sich damit gut bewältigen.
Auf der
Weitere Kostenlose Bücher