Dem Leben Sinn geben
Sinnlichkeit, mit der er die Sinnleere durchstehen kann, die der notwendige Gegenpol zur möglichen Sinnfülle ist.
Dass Nietzsche die Notwendigkeit einer neuen Sinngebung sah, könnte ein Grund für seinen häufigen Gebrauch der Formel »Eins ist noth« ( sic! ) in vielen Schriften und Briefen sein: Eines ist notwendig, nämlich dem Leben Sinn zu geben. Notwendig ist es, da der Mensch offenkundig ein sinnbedürftiges W esen ist. Sinnbedürftig ist er, da Sinn die Zusammenhänge herstellt, in denen Energien fließen können. Sinn stillt den Energiehunger des Menschen, dem das naturgegebene Quantum nicht auszureichen scheint, vermutlich weil sein Denken, seine Arbeit an Kunst und Kultur enormer Ressourcen bedarf. In moderner Zeit aber zerbrechen sehr viele Zusammenhänge: Die willentliche Befreiung von vorgegebenem Sinn führt zur vollkommenen Sinnlosigkeit, zur Erfahrung des Nichts. Nietzsche, der die Dynamik der Moderne vorweg bis zum Äußersten durchdachte, sah es daher als Aufgabe der bewussten Lebensführung, der Lebenskunst des Einzelnen an, Zusammenhänge wiederzufinden und neu zu schaffen, dem Leben somit wieder Sinn zu geben, etwa mit einer Setzung von Zielen und Zwecken, um zu sagen: Dafür bin ich da, das ist meine Lebensaufgabe. Nichts und niemand kann dem Einzelnen diese Arbeit abnehmen, »das ›Individuum‹ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung«, hieß es bereits 1886 in Jenseits von Gut und Böse (Aphorismus 262).
Die Arbeit an den Zusammenhängen betrifft zuallererst das Innere des Selbst, die Festlegung seiner Werte, die Gestaltung seines Charakters. Der ist zwar erst einmal naturgegeben und Ergebnis einer sozialen Formung, nun aber tritt an die Stelle des Befolgens von Vorgaben etwa der Moral eine eigene Wahl, aus Moralfragen werden Stilfragen , ausgehend vom Selbst: » Eins ist Noth. – Seinem Charakter ›Stil geben‹ – eine grosse und seltene Kunst« (Fröhliche Wissenschaft, 1882, 290). Stil heißt, sich nicht irgendwie zu verhalten, sondern der eigenen Haltung und dem Verhalten Formen zu geben und Grenzen zu ziehen, sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren, statt sich zu verzetteln und seine Kräfte zu zerstreuen, dieses vorzuziehen und hervorzuheben, jenes nachrangig zu behandeln,Eines auszuwählen und festzulegen, statt vieles oder alles zu wollen. Alles ist möglich? Kann sein, aber für alles reichen die Kräfte nicht. Sich auf alles zu stürzen heißt, nichts mehr realisieren zu können.
Als das »Eine, was noth thut«, bezeichnete schon der 15-jährige Nietzsche in einem Brief vom 17. März 1860 aus Schulpforta die »heiligsten Entschlüsse und Vorsätze für das zukünftige Leben«. Später denkt er an die Werte, Grundsätze und Regeln, die mit einer eigenen Wahl in Kraft zu setzen und geduldig einzuüben sind, um dem gesamten Leben Stil zu verleihen. Nach der Befreiung von äußeren Normen zu einer eigenen Formgebung fähig zu sein, ist ein Kennzeichen des »souveränen Individuums«, von dem Nietzsche in dem aus den Lenzerheide-Überlegungen hervorgehenden Buch von 1887 spricht: Zur Genealogie der Moral (hier II, 2). Basis der Souveränität des Individuums ist die Redlichkeit gegen sich selbst, die auch einen redlichen Umgang mit Anderen ermöglicht: So entsteht der Mensch, der versprechen darf , da er in der Lage ist, sein Versprechen auch einzuhalten. Nur mit selbst gewählten Formen sind noch verlässliche Zusammenhänge zu begründen, nur sie können dem Leben neuen Sinn und Halt geben: Das ist Nietzsches Antwort auf den Nihilismus nach der Auflösung alter Normen, ein erster Schritt auf dem Weg zur postnihilistischen Kultur einer anderen Moderne.
Wie sehr die Arbeit der Sinnfindung und Sinngebung gerade dann zur existenziellen Aufgabe wird, wenn unter schlimmen und schlimmsten Bedingungen jeder Sinn zerbricht, hat sich im 20. Jahrhundert in Konzentrationslagern zur bitteren Erfahrung verdichtet. Was im Reich der Nationalsozialisten Menschen Anderen antaten, kann als millionenfacher Beleg dafür gelten, dass metaphysisch ausgebrannte Menschen aufder Suche nach dem verlorenen Sinn nicht davor zurückschrecken, Sinn zuletzt noch aus der Verachtung und Vernichtung Anderer zu ziehen, um selbst leben zu können.
Aus eigener Lagererfahrung heraus wirft Viktor Frankl die alte philosophische Frage nach dem Sinn neu auf und versucht sie nicht mehr mit einem kosmischen »Bezugssystem« wie vor ihm Alfred Adler ( Der Sinn des Lebens , 1933, 178), sondern mit einer
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