Dem Leben Sinn geben
in Anderen und anderswo neu auflebt. Was traurig macht, ist der wirkliche Tod. Was tröstet, ist das mögliche Leben darüber hinaus. Nichts tröstet angesichts des Todes so sehr wie der Anblick der Kinder, die das Leben weitertragen: Im immer neuen Dasein manifestiert sich das Sein, personale Sterblichkeit, ontologische Unsterblichkeit.
Der größtmögliche Trost, der erreichbar ist, wird auf diese Weise erfahrbar, erst recht aber in der Beziehung zu einer Dimension der Transzendenz , unabhängig davon, ob sie säkular oder religiös verstanden wird. Menschen können sich im Denken und Deuten zumindest die Möglichkeit einer solchen Dimension offenhalten, um sich in äußerster Einsamkeit in »etwas Größerem« geborgen zu fühlen, in einem Allumfassenden, das niemanden allein lässt, da es allgegenwärtig ist. Den übergroßen metaphysischen Schmerz , der entsteht, wenn Menschen sich ihrer Sterblichkeit bewusst werden und mit dem Tod konfrontiert sind, kann am besten ein metaphysischer Trost auffangen, der nicht »jenseits der Natur« sein muss: Trösten kann das Aufgehobensein in der Geschichte der Menschheit und der Welt , die nicht mit dem Einzelnen zu Ende geht; kein Mensch fällt mit seinem Tod aus ihr heraus. Trösten kann die Einbettung der irdischen in die kosmische Natur , wie dies der Maler Giovanni Segantini kurz vor seinem Tod 1899 im Bild La Morte darstellte (Segantini-Museum, St. Moritz): Rechts am Bildrand ist zu sehen, wie ein toter Mensch aus dem Haus getragen wird, aber der Tod ist nur ein Detail des Lebens in der mächtigen Natur der Berge (hier im Engadin bei Maloja), die ihrerseits nur ein Detail des Planeten verkörpern, der in die übermächtige Natur des Universums eingebettet ist, das im betörenden Sonnenlicht eines Wintertages präsent ist, wenngleich jetzt ein bedrückender Schatten über der Szene liegt. Der kosmische Horizont führt die begrenzte Bedeutung des Irdischen vor Augen und macht eine andere Dimension sichtbar, in deren unendlicher Weite sich alles verliert, was im Leben jetzt schmerzt.
Seit uralten Zeiten haben Menschen im Unendlichen die Freiheit gesucht, die den Blick über die momentane Situation, die gegenwärtige Wirklichkeit, das gesamte Leben hinaus weitet, um einem abgrundtiefen Schmerz zu entfliehen und in einer aussichtslosen Situation neue Perspektiven zu erschließen. Um nichts Anderes geht es auch in den Trostschriften der Philosophie, wenn beispielsweise Seneca im 1. Jahrhundert n. Chr. die ihm nahestehende Marcia tröstet, die ihren Sohn verloren hat: »Von dem Augenblick an, da er zuerst das Licht der Welt erblickte, hat er den Weg des Todes betreten« ( Trostschrift an Marcia , 21). Aber nur seine äußere Gestalt sei verschwunden, er selbst gehöre nun der Ewigkeit an und erfreue sich eines besseren Zustandes als im ständig bedrohten sterblichen Leben. Alles Menschliche sei kurz und hinfällig und mache nur einen verschwindend geringen Teil der unendlichen Zeit aus, führt Seneca in einer großartigen Kosmologie vor Augen. Im 6. Jahrhundert n. Chr. tröstet der neuplatonische Philosoph Boethius sich selbst, als er, wegen des Verdachts der Teilnahme an einer Verschwörung zum Tode verurteilt, auf seine Hinrichtung wartet. In seiner Schrift Vom Trost der Philosophie zeigt er sich von den unantastbaren Eigenschaften der unsterblichen Seele überzeugt, die mit dem Tod in ihre göttliche Heimat und somit zur vollkommenen Glückseligkeit ( beatitudo im Lateinischen) zurückkehrt. Für sinnlos könne ein Mensch ein Geschehen nur deshalb halten, weil ihm der Einblick in die Gesamtheit der Zusammenhänge der göttlichen Vorsehung fehle, in der alles genau geordnet sei.
Trösten können alle transzendenten Fähigkeiten , die der Seele und dem Geist eines Menschen zur Verfügung stehen, denn sie ermöglichen ein Denken, Fühlen und Handeln über die Gegenwart hinaus, und ihre vorsätzliche Kultivierung macht eine energetische Intensität erfahrbar, die aus subjektiver Sicht dem Leben Sinn gibt. Einige dieser Fähigkeiten fanden als Kardinaltugenden ( cardo im Lateinischen für Türangel), also alsDreh- und Angelpunkte des menschlichen Lebens, Eingang in die abendländische Kultur, etwa mit der Trias von Glaube, Liebe, Hoffnung, die seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. von christlichen Autoren tradiert wurde, aber nicht allein von ihrer Wertschätzung abhängt.
Jeder Mensch kann sich für den Glauben entscheiden, dass ein Leben und Zusammenleben über das menschliche
Weitere Kostenlose Bücher