Dem Leben Sinn geben
negativen Erfahrungen Sinn zukommt.
Zwar liegt nichts näher, als gegen alles Negative , Angst, Verrat, Schmerz, Leid, Krankheit, Tod aufzubegehren, aber es lässt sich nicht restlos aus der Welt schaffen, ja, mehr noch: All das Positive , Angenehme, Gute und Lustvolle, das allein übrig bliebe, ergäbe wohl selbst ein unerträgliches Leben. Wer das Leben gänzlich schmerzfrei haben will, läuft überdies Gefahr, beim kleinsten Schmerz schon schrecklich zu leiden. Wer aber dem Schmerz einen Platz im Leben zugesteht, macht ihn erträglicher. Und wer schmerzliche Zeiten erlebt, weiß lustvolle erst wirklich zu schätzen.
In Gedanken kann trösten, was in Gefühlen oft Untröstlichkeit verursacht: Dass offenkundig Polarität für das Leben grundlegend ist, auch wenn es noch so verschieden interpretiert werden kann, und dass dies deswegen so ist, weil das Leben daraus seine Spannung bezieht. Für das Hin und Her zwischen den Gegensätzen wiederum scheint Zyklizität typisch zu sein, ähnlich dem Zyklus der Tages- und Jahreszeiten, und das könnte auch für den fundamentalen Gegensatz von Werden und Vergehen gelten: Alles, was wirklich ist, ist vergänglich,und alles, was lebt, stirbt, während unentwegt neues Leben entsteht. Das Leben und die Welt atmen und pulsieren auf diese Weise im Kleinsten und im Größten. Wer dementgegen auf der Linearität des Werdens, des ewig jungen, nie alternden Lebens beharrt, wie es der »absolut modern« gewordene Mensch versucht, kann mit der Vergänglichkeit nicht leben: Sie ruft in ihm nur den Eindruck einer großen Sinnlosigkeit hervor. Bereitwillig mitzufließen im Meer des Lebens und seinen Gezeiten, kann hingegen als große Erfüllung erfahren werden.
Im Geistigen Trost zu finden, fällt leichter mithilfe von Gedanken, Worten und Sentenzen , die einem Menschen zur rechten Zeit von irgendwoher zufliegen. Da sie oft genau zur fraglichen Situation passen, führen sie zu der Überzeugung, es müsse ein Sinn darin liegen, ihnen gerade jetzt zu begegnen. Aber im Grunde sind sie immer da, nur die Aufmerksamkeit auf sie ist neu, und was ein Mensch am meisten braucht, das elektrisiert ihn auch am meisten. Tröstende Gedanken sind Büchern zu verdanken: Lesen tröstet . Die beschriebenen Wirklichkeiten erlauben die Einordnung eigener Erfahrungen; die erfundenen Möglichkeiten führen vor Augen, dass es noch so viel Anderes gibt. Und Schreiben tröstet , in erster Linie das Aufschreiben all dessen, was geschieht, um sich eine bedrückende Wirklichkeit »von der Seele zu schreiben« und mit jeder Äußerung das Innere von einer Last zu befreien. Bei der Suche nach dem angemessenen sprachlichen Ausdruck kommen verborgene Zusammenhänge einer Situation ans Licht, die Wirklichkeit gerät in Bewegung, und neue Möglichkeiten leuchten auf, zumindest solche der Deutung. Mit der geistigen Arbeit, die das Schreiben abverlangt, macht ein Mensch zum Objekt, was ihn bewegt, und er gewinnt wieder die Weite, die er in der Enge der Verzweiflung zu verlieren drohte. Und Reden tröstet , dennjedes gesprochene Wort, beinahe egal welchen Inhalts, kann Schmerzen lindern und ein Leiden besänftigen, oft auch das Reden ohne Worte: Reden stellt einen Faden der Verbindung zwischen Menschen her und entreißt sie allein damit schon ihrer Einsamkeit und Verlorenheit.
Sinnerfüllend und voller Trost ist darüber hinaus der gefühlte und gedachte transzendente Sinn , der sich aus der Annahme eines Zusammenhangs über die Gegenwart, womöglich über die Endlichkeit des Einzelnen hinaus ergibt, zunächst auf ganz weltliche Weise: Trösten kann nun doch, dass das Leben »weitergeht«, in einer alltäglichen und einer tieferen Bedeutung. Das Leben geht weiter im Alltag und in den Gewohnheiten , in denen ein Mensch sich wohnlich einrichtet. Der Alltag tröstet , wenn das Leben kaum noch auszuhalten ist, denn durch alle Brüche und Umbrüche hindurch hält er den Zusammenhang der Kontinuität aufrecht und ermöglicht einem Schmerz die Zerstreuung in der Zeit. Als tröstlich und heilsam wird im Alltag die Arbeit an einer Aufgabe erfahren, die über das eigene Ich hinausreicht und größer ist als das Unheil, das so leidvoll ist: Ich bin für etwas oder jemanden da, das ist jetzt der Sinn meines Lebens. Gehört es zur Aufgabe, etwas zu ordnen, ist das damit verbunden, sich selbst wieder zu ordnen. Auf jede Weise geht das Leben weiter, auch weiter als bisher, letztlich über das bestehende Leben hinaus, wenn das eigene Leben
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