Dem Leben Sinn geben
erheblich leichter zu realisieren war. An den Geschwistern selbst ging dieser Prozess nicht spurlos vorbei: In den aufgrund von Befreiung fragmentierten und neu zusammengesetzten modernen Familien ist es nicht mehr selbstverständlich, noch Geschwister zu haben, und wenn doch, dann nicht, dieselben Eltern zu haben oder bei denselben Eltern gemeinsam aufzuwachsen.
Über Jahrtausende hinweg war die Geschwisterbeziehung naturgegeben, ihre Pflege kulturell vorgegeben. Aber auch für die Geschwister gilt, dass ihre Beziehung in moderner Zeit zu einer Frage der individuellen Wahl wird. Selbst im Falle einer genetischen Verbundenheit hängt es vom Einzelnen ab, dieser Bindung Bedeutung zuzumessen, sie wahrzunehmen, ernst zu nehmen und mit Leben zu erfüllen, sie zu bejahen oder eben nicht. Alle Geschwister werden somit zu Wahlgeschwistern , und auch Freunde und Freundinnen können dazu erklärt werden, um mit ihnen das Leben zu teilen, nicht mit rechtlichen Folgen (etwa beim Erbrecht), aber mit einer gefühlten Bindung, die womöglich enger ist als die an die angestammte Familie.
Einst bewirkten Gründe der Notwendigkeit ein Festhalten an der Geschwisterbeziehung: Das Leben der Individuen war auf diesen wechselseitigen Beistand angewiesen. Aber dieseGründe entfallen in moderner Zeit, und so kann sich die Beziehung der Geschwister freier als je zuvor entfalten: Gründe der Freiheit treten in den Vordergrund, da nach aller Befreiung auch diese Beziehung zur Angelegenheit einer Formgebung der Freiheit wird, die die Geschwisterlichkeit zur frei wählbaren Bindung fürs Leben macht.
Gründe des Glücks sprechen dafür, sich um diese Beziehung zu kümmern, schon weil sie dem schicksalhaften Zufallsglück zu verdanken ist, das dem Einzelnen diesen oder jenen Anderen zur Seite stellt. Das Wohlfühlglück können Geschwister miteinander genießen, und gerade dann erscheint ihnen die Beziehung bejahenswert, wenn sie die Freude am Leben und an Beziehungen miteinander teilen können. Aus ihren Unterschieden und Gegensätzen, auch aus gelegentlichen gegensätzlichen Gefühlen, resultiert darüber hinaus ein Glück der Fülle: Freude und Ärger sind in dieser Beziehung reichlich zu erfahren und bei einem gemeinsamen Heranwachsen lernen Geschwister früh, diese Polarität in ihr Leben zu integrieren. Gemeinsam können sie auch ein mögliches Unglücklichsein besser bewältigen und auf diese Weise ein erfülltes Leben verwirklichen.
Vor allem aber sprechen Gründe des Sinns dafür, diese Beziehung zu pflegen: Sie ist eine Möglichkeit, dem Leben Sinn zu geben, denn sie verbürgt einen starken Zusammenhang durch das gesamte Leben hindurch und bietet selbst dann noch Halt, wenn sonst nichts mehr hält – aus dieser Einsicht geht auch die therapeutische Forderung nach mehr »Geschwisterarbeit« hervor (Hans Sohni, Geschwisterdynamik , 2011, 131). Aus all diesen Gründen suchen Geschwister immer wieder nach einander und bleiben einander bemerkenswert nahe, wie groß die räumliche und sonstige Ferne auch sein mag.
Die Geschwisterliebe ist Teil einer Kunst des Liebens, die Beziehung kann sich im Laufe des Lebens jedoch mehrfach wandeln (Hartmut Kasten, Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute , 2003). Was in den Entwicklungsphasen der Kindheit zuweilen symbiotische Liebe, dann wieder rivalisierende Beziehung war, setzt sich durchs Leben hindurch fort: Aus Liebe kann Hass werden, womöglich eine unversöhnliche Feindschaft, aus Feindschaft wiederum eine ungetrübte Freundschaft, ein Anker der Stabilität in allen Lebenslagen. Eine leidenschaftliche Liebe ist möglich, bei der einer ohne den Anderen nicht leben will, wie etwa zwischen den Dichter-Geschwistern Bettine Brentano, verheiratete von Arnim, und ihrem Bruder Clemens (Hartwig Schultz, » Unsre Lieb aber ist außerkohren« , 2004). Die Möglichkeiten der leidenschaftlichen Liebe reichen dabei vom innigen seelisch-geistigen Austausch bis zur inzestuösen, erotischen, auch sexuellen Anziehung. Probleme scheint nur der tatsächliche Inzest mit sich zu bringen, aus psychischen und genetischen Gründen: Die Verschmelzung der Ichs ist der individuellen Entwicklung abträglich, und genetisch bedingte Krankheiten treten bei Kindern aus dieser Verbindung mit signifikanter Häufigkeit auf.
Eine andere Art der Geschwisterliebe mit großer Vertrautheit und Zuneigung ist die wahre Freundschaft , wie sie etwa zwischen den Komponisten-Geschwistern Fanny Mendelssohn Bartholdy, verheiratete
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