Dem Leben Sinn geben
Hensel, und ihrem Bruder Felix möglich war ( Briefwechsel , 1997). Der und die Andere wird zum besten Freund, zur besten Freundin, mit dem oder der nicht um Macht gerungen werden muss, wie das vielleicht in der Kindheit noch Alltag war. Die Geschwisterfreunde können sich alles anvertrauen und sehr freimütig miteinander umgehen. Und wenn schon nicht Liebe oder Freundschaft, dann ist wenigstens eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und Kooperation möglich, auf der Basis eines einfachen Mögens, das eine wechselseitige Aufmerksamkeit und Hilfe in einer unproblematischen Beziehung unter Gleichen ermöglicht, auch wenn die Charaktere und Interessen sehr ungleich ausgeprägt sind.
Gleichgültigkeit herrscht hingegen vor, wenn der bloßen Funktion , Geschwister zu sein, nur äußerlich Rechnung getragen wird, um lustlos, aber unangreifbar einer Konvention Genüge zu tun. Die Gleichgültigkeit kann eine betonte, vorsätzliche, oder eine beiläufige, nachlässige sein.
Absolut nicht von Gleichgültigkeit gekennzeichnet ist demgegenüber die Beziehung, in der häufiger Streit dominiert, der in der Kindheit noch sinnvoll erscheint: Der eigene Kern bildet sich in der Auseinandersetzung mit dem nahen Anderen klarer heraus, und die Relativierung, die das Ich erfährt, begünstigt sein Absehenkönnen von sich, eine gute Basis für einen problemlosen Umgang mit Anderen. Der Auseinandersetzung ist die frühe Erfahrung von Grenzen zu verdanken, die der jeweils Andere setzt, und das Vertrautwerden mit gegensätzlichen Interessen fördert die Einübung in eine Kompromissbereitschaft, die das ganze Leben hindurch brauchbar ist. Schwieriger ist der häufige Streit im Erwachsenenalter, wenn jeder auf seinen ausgeprägten Ansichten beharrt, wie etwa die Brüder Heinrich und Thomas Mann, die, gespiegelt von den Schwestern Carla und Julia, zeitlebens miteinander haderten und zwischendurch nichts mehr voneinander wissen wollten.
Im schlimmsten Fall aber, wenn der Streit das gesamte Leben hindurch wiederkehrt und nicht mehr zu schlichten ist, kann ein rigider Ausschluss des Anderen aus dem eigenen Leben die Folge sein, womöglich für immer, nicht immer zum Wohle der Beteiligten, die auf Dauer Bitterkeit mit sich herumtragen.Und in Zeiten der elektronischen Kommunikation ist eine partielle Virtualisierung auch für die Beziehung der Geschwister möglich, die einen mehr oder weniger intensiven Kontakt miteinander pflegen wollen. Das erinnert an die einstige Beziehungspflege per Brief, von der etwa der Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und seiner Schwester Elisabeth zeugt, mit einem endlosem Hin und Her zwischen Liebe, Freundschaft, Kooperation, Funktion, Streit und Ausschluss: Der Philosoph sah eher in Lou von Salomé sein »Geschwistergehirn«, wenngleich ohne die Resonanz, die er sich wünschte.
Innerhalb der Familienkonstellation kommt Geschwistern von Geburt an eine Position zu, die schicksalhafte Konsequenzen in sich birgt und für die dennoch niemand irgendwelche Verantwortung trägt: Älteste(r), Mittlere(r), Jüngste(r) zu sein. Konträre Meinungen und Theorien ranken sich um diese Geschwister-Ordnungen . Manche lieben die ihnen zugefallene Rolle und fühlen sich in ihr wohl, Andere hassen sie und halten sie für eine untragbare Bürde. Die Position kann sich auf die Perspektive auswirken, unter der das Leben gesehen wird, und sie beeinflusst Antriebskräfte oder deren Fehlen. Der Ältere, dem schon früh die Verantwortung für die jüngeren Geschwister übertragen wird, kann versucht sein, ein wenig rechthaberisch und besserwisserisch durchs Leben zu gehen, wie beispielsweise Frederick, eine Zeichentrickfigur in Kindergeschichten von Elke und Dieter Loewe: Das ausgewachsene Schwein soll seinem kleinen Bruder Piggeldy das Leben erklären (»nichts leichter als das«), offenbart dabei aber ein ums andere Mal seine eigene Unwissenheit. Das Mittelkind fühlt sich in der Sandwich-Position zwischen Älteren und Jüngeren bestens eingebettet und übt sich schon mal als diplomatischer Vermittler – oder sieht sich dermaßen eingekeilt, dass es zu Freunden ausweichtund zügig nach Selbstständigkeit strebt, um mehr Freiraum für sich zu gewinnen. Dem Jüngsten wiederum wird die Rolle des Nesthäkchens zuteil, von allen geliebt, aber nicht von allen ganz ernst genommen, noch dazu regelmäßig darauf reduziert, »die kleine Schwester, der kleine Bruder von…« zu sein (Alfred Adler, Menschenkenntnis , 1927; Jürg Frick, Ich mag
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