Dem Leben Sinn geben
solle man vom Freund erwarten und bei einer Verfehlung die Schuld lieber äußeren Umständen zuschreiben und ihn entschuldigen. Man solle festhalten an ihm in jeder Situation und zu ihm stehen, wenn jeder ihn verlässt, ihn zu verstehen suchen, wenn keiner sonst ihn versteht, »warm und eifrig« Partei für ihn ergreifen, sofern dies nicht völlig unredlich ist, und seinen Ruf retten, wenn er verleumdet wird. Auch eine Dummheit gemacht zu haben, ist unter Freunden kein Anlass für Vorwürfe, eher einer fürs Amüsement. Ängste können Freunde sich eingestehen und sich gerade dadurch von ihnen entlasten, dass sie nicht mehr verdrängt werden müssen. Eine enorme Bereicherung des Lebens ergibt sich daraus, dass das Leben des Anderen auf jede Weise mitgelebt und damit das eigene Leben vervielfältigt werden kann.
9. Glück ist, gemeinsam auch unglücklich sein zu können . Da das Glück, anders als moderne Menschen es sich ausmalen, nicht aus einer endlosen Abfolge von Glücksmomenten bestehen kann, lautet eine zentrale Lebensfrage: Was bleibt, wenn das Glück geht? Die Freunde können Gesprächspartner und seelische Stütze füreinander sein, wenn das Glück aussetzt und ein Unglücklichsein oder gar Unglück zu bewältigen ist. Das Leben lastet in einer solchen Zeit schwer auf dem Betroffenen, der sich bedrückt und niedergedrückt fühlt, deprimiert und depressiv ist. Aber wenn einer den Mut verliert, bewahrt ihn der Andere, ein Rest von Sinn in aller Sinnlosigkeit: You’ve got a friend (Carole King, James Taylor, Popsong, 1971). Er muss nicht versuchen, dem depressiven Selbst den Weltschmerz auszureden, es ist nur wichtig, in Gedanken und Gefühlen bei ihm zu sein.
Niedergeschlagen, traurig, ohne jede Hoffnung zu sein, ist ein momentaner oder phasenweise wiederkehrender, in manchen Fällen ein dauerhafter Zustand. Oft wird er mit der Krankheit der Depression verwechselt, bei der Gefühle und Gedanken einfrieren und die ohne ärztliche und therapeutische Hilfe nicht zu bewältigen ist. Im Zustand des Depressivseins aber sind Gefühle und Gedanken in heftiger Bewegung und kaum etwas ist hilfreicher als der Freund, dem etwas davon erzählt werden kann. Ein althergebrachtes Wort für den Zustand ist Melancholie , eine mögliche Seinsweise der Seele angesichts der Ungewissheit, Abgründigkeit und Begrenztheit des Lebens, die Menschen mit mehr oder weniger großer Heftigkeit bewusst wird. Das tragische Bewusstsein, das damit einhergeht, ist dem Leben womöglich angemessener als jede Leugnung von Tragik. Das muss nicht zur Folge haben, sich dem Zustand zu sehr hinzugeben, schon um den Freund nicht zu sehr damit zu belasten. Und bei allem Beistand gilt: Alle Gemeinsamkeit kann Einsamkeit nicht auslöschen, der Einzelne selbst muss sein Leben leben, kein Anderer kann ihm dies abnehmen – jedenfalls neigen Männer mehr als Frauen zu einer solchen Auffassung.
10. Glück ist nicht zuletzt ein Leben über sich selbst hinaus , zu dem Freunde sich wechselseitig verhelfen. Schon beim gewöhnlichen Zusammensein vergehen manchmal Stunden, ohne noch wahrgenommen zu werden, die Zeit löst sich auf, eine ungewöhnliche Überschreitung des gewöhnlichen Lebens wird möglich. Und jeder kann ein Anderer werden im Umgang mit dem Anderen, denn bei ihm ist er nicht auf die Rollen verpflichtet, die er im Alltag spielen muss, kann vielmehr beengte Verhältnisse zurücklassen, eine Situation und das Leben, andere Menschen und die Welt wieder aus andererPerspektive sehen und neuen Atem schöpfen: » Freunde haben . Es ist ein zweites Dasein« (Gracián, Handorakel , Aphorismus 111). An den entlegensten Orten kann ein Mensch mit Freunden zuhause sein, fremde Kulturen werden ihm durch sie vertraut. Das Leben wird vielfältiger, spannender und schöner mit ihnen, denn gemeinsam verfügen die Freunde über weit mehr Möglichkeiten als einer für sich allein, und sie ermutigen sich zu ihrer Verwirklichung.
Die Beziehung zueinander ragt sogar über die Endlichkeit des Einzelnen hinaus, ein Element der Transzendenz: In jeder Liebe zu einem Anderen, auch in dieser, ist die Dimension der Unendlichkeit präsent. Zwar ist der Andere selbst der Endlichkeit unterworfen, aber nicht derselben wie ich. Und wie die Liebe der Liebenden kann auch die der Freunde über den Tod hinaus bestehen bleiben, schon weil der, der länger lebt, das Andenken des Anderen bewahrt. Wenn es zutrifft, dass die Seele Energie ist, die nicht im Nichts verschwindet, also
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